19 Dezember 2023

Dezember-Zweifel und Ausblick auf das neue Jahr 2024


 Hallo meine Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Das wäre Ihr Cover gewesen
(by J. Zalfen)


Wie geht es bei euch voran? Vielleicht habt ihr mitbekommen, 
dass ich eine Geschichte zurückgezogen habe. Das hat einen
guten Grund. Gentlemen's Game - oder wie auch immer die
Geschichte mit den zig Arbeitstiteln am Ende heißen wird -
bekommt einen Verlag. Ja, richtig, einen Verlag.
Also, wenn jetzt keine großen No-Gos mehr genannt werden.
Meine Entscheidung wird davon abhängen, ob ich mit
Zirkulum weiter machen kann, wie ich mir das vorstelle,
oder nicht.

Und obwohl ich mich freue, gibt es da Zweifel. Eigentlich
habe ich nur die Idee zu Gentlemen's Game verkauft.
Das Buch wird in großen Teilen noch einmal umgeschrieben.
Die Figuren, Orte und das Verbrechen bleiben erhalten, aber
nach einer längeren Rücksprache ist mir klar geworden,
dass ein paar andere Dinge so nicht funktionieren.
Jedenfalls nicht mit dieser Geschichte.
Außerdem will der Verlag keine 92.000 Wörter, sondern ein
bisschen weniger *lacht*

Das ist alles kein Problem, aber die Idee einer Deadline - also eine richtige Deadline,
mit Konsequenzen, falls ich sie nicht einhalte, macht mich schon nervös. Nicht, dass der
Abgabetermin in nächster Zeit wäre. Ende 2024. Und das Buch muss nicht voll lektoriert sein
bis dahin - was nicht heißt, dass ich einen rohen Entwurf abgeben kann, sollte oder werde.
Der Rest des Monats wird damit erstmal für eine neue Version von Gentlemen's Game
draufgehen. Die Fünfte, um genau zu sein. 

Das liegt wohl noch im Rahmen, Fitzek behauptet,
im Schnitt sieben Versionen bis zum veröffentlichten Werk zu schreiben,
wenn ich das richtig im Kopf habe.

Und das Buch hat eine lange Reise hinter sich, von den ersten Anfängen
Zweitausend-ich-glaube-und-vierzehn bis heute. Irgendwo habe ich sogar ein Büchlein mit der
gedruckten Fassung der ersten Version und lasst euch sagen, die ist schlecht.
Wirklich, wirklich schlecht. Aber sie ist fertig und ohne sie wäre ich jetzt nicht hier.
Vielleicht erzähle ich irgendwann im Laufe des nächsten Jahres mal den ganzen Werdegang,
wenn das Ende absehbar ist. Vielleicht auch nicht, mal sehen.

Wie sieht es bei euch aus? Wisst ihr schon, was 2024 bringen will oder soll?

24 November 2023

Das November-Chaos oder NaNoWriMo Ate My Soul!

 Hallo meine lieben Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört. Zum Teil, weil ich mich etwas mehr auf Wattpad als auf Blogger herumgetrieben habe, zum anderen weil November ist. Ich habe eine Weile gezögert, diesen Post heute schon zu verfassen, weil ich am Montag außerdem ein Gespräch mit einem Verlag habe, der Interesse an Gentlemen's Game geäußert hat.

Ein richtiger Verlag! Und sie sind auf mich zugekommen. Das ganze Ist schon einen Monat her und mittlerweile fühlt es sich gar nicht mehr so surreal an, aber aufgeregt bin ich trotzdem. Ich hoffe, dass die Bauarbeiten an der Hauptstraße mir da keinen Strich durch die Rechnung ziehen und das Internet kappen. Das wäre ziemlich bescheiden.


 

Aber egal, über den Deal oder Nicht-Deal und die Zukunft von Gentlemen's Game rede ich ein andermal. Heute geht es um einen ersten Rückblick auf meinen NaNo. Sechs Schreibtage habe ich noch, aber ich bin mit rund 42.000 Wörtern in jeweils zwei Projekten gerade deutlich auf der Überholspur. Und ja, ihr lest richtig. ZWEI Projekte. Deswegen auch das ganze Chaos.

Wie kam es dazu?

Geplant hatte ich eine neue Fassung, quasi ein zweiter erster Entwurf, für die Geschichte von Hendrik. Erinenrt ihr euch nch an Euro-Jin? Genau diesen Hendrik. Ich hatte erst überlegt, die Geschichte etwas zu überarbeiten, in einen besseren Stil zu heben und ein paar kleine Lücken auszubessern (ein Vorhaben, dass ich auch für Totes Blut und Zirkulum im Kopf habe). Stephen King hat das getan, Musiker und Filmstudios machen es andauernd, also warum nicht auch mit meinen Erstlingswerken so verfahren? Jedenfalls ist mir beim Durchlesen aufgefallen, dass ich die Geschichte nicht runder bekomme, als sie ist (und sie ist leider ziemlich eckig 😅), also habe ich eine andere Story geplant. Mein eigentliches November-Projekt.

Soweit, so gut. Am Morgen des ersten November bin ich wach geworden, und eine zweite Idee ist aufgetaucht. Irgendwann im Laufe des Jahres wollte ich "irgendwas mit Werwölfen" machen, die Idee ist aber nie in einen planungsfähigen Zustand gekommen. Dann sind diese Werwölfe Anfang des Monats aufgetaucht und wollten auf's Papier. Ich habe ihnen nachgegeben - ich starte häufiger mit zwei Porjekten und lasse eins in der ersten Woche fallen. Sie sind noch da. Hendrik ist auch noch da.

Zwei Projekte. Eines mit Planung und eines in wildem, ungeplantem Chaos. Wollt ihr wissen, wie wildes Chaos bei mir aussieht, wenn ich versuche, da eine koheränte Geschichte rauszuholen? Bitte:

Mein YouTube-Kanal hat da gerade eine Serie zu laufen ...

Die erste Überarbeitung wird also sicherlich aufregend. Die Welt hat alles. Intrigen, rivalisierende Reiche, Werwölfe, Magier, heilige Pusteblumen - und ich habe nach 42k Wörtern immer noch nicht die leiseste Ahnung, wie das alles funktionieren soll.

Immerhin hält mich Hendrik davon ab, wahnsinnig zu werden. Die meiste Zeit.Ehrlich gesagt, da ich jeden Tag an zwei Projekten arbeite, weiß ich auch bei ihm nicht mehr, was überhaupt los ist. Ich hangele mich an meinen Planungen und Notizen entlang (immerhin hat er die) und fürchte, dass das Ergebnis genauso chaotisch werden wird. 

Und wie läuft der Monat bei euch so?
 

01 September 2023

Schreiben und Musik oder: Warum ich ohne Musik kaum Ideen finde.

 Hallo meine lieben Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Vor einiger Zeit bin ich durch einen Freund auf das Thema "Songlisten in Büchern" gestoßen. Er stört sich an der Verbindung, aus dem Gedanken heraus, dass die Auflistung von Liedern eine Abkürzung zu Emotionen darstellt, die eigentlich durch das Schreiben erreicht werden sollen. Und obwohl ich die Idee, eine Playlist in ein Buch zu schreiben, aus mehreren Gründen seltsam finde, stimme ich ihm nicht zu. Warum? Ganz einfach, weil die Musik mir als Autor hilft, überhaupt erst das richtige Gefühl, die richtige Stimmung oder - im schlimmsten Fall - die richtige Idee zu finden. Ich bin nämlich zu gleichen Teilen hyperemotional und gefühlsblind *lacht*

Es gibt kaum eine Idee, für die ich nicht ein Set an Liedern habe, die mich in die passende Stimmung bringen oder mir aus einer Ideen-Sackgasse helfen können. Und wenn ich diese LIede rnicht habe, ist das Projekt tot. Einfache Sache. Manche - eigentlich sogar die meisten - meiner Ideen entstehen aus Liedern oder Lyrik. Die Kombination von Worten und Rhythmus ist ein mächtiges Werkzeug, um Menschen Emotionen zu entlocken, vielleicht sogar ein noch mächtigeres als die Kombination von Bild und Ton. Sorry, Hollywood.

Kann Musik also helfen, Bücher besser zu machen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass ja. Allerdings nicht, indem ich Playlists ins Nachwort schreibe. Nicht einmal, indem ich Songzeilen als Kapiteltitel verwende - was ich übrigens für eine legitime Lösung halte und in vielen meiner ursprünglichen Drafts mache. Ich sortiere die Ereignisse meiner Bücher gerne zu entsprechenden Liedern, im fertigen Werk seht ihr davon jedoch ziemlich wenig. In der Regel. Was ihr vielleicht sehr, sind die Unterschiede, ob ich zu einem Ereignis, einem Kapitel, einer Wendung ein passendes Lied hatte oder nicht. Ich bilde mir nämlich ein, dass diese Stellen besser geschrieben sind. Aus dem einfachen Grund, dass ich in dem Lied eine Erinnerung habe, wie ich die Szene gerne hätte. Ich höre mir in der dröfzigsten Überarbeitung das Lied an und weiß wieder, wo ich hinwollte. Mehr noch, ich habe meine alte Begeisterung wieder, die mich ansonsten so spät im Prozess auch durchaus verlassen haben kann.

Musik hilft mir also bei der Planung und bei der Überarbeitung. Nicht unbedingt so sehr beim Schreiben selbst, denn ich kann nicht Musik hören und schreiben. Die Musik lenkt mich zu sehr ab. Ich kann aber stoppen, das Lied dreimal (oder auch dreißigmal) hören, mitgröhlen und dann weiterschreiben. Musik ist ein wenig wie eine fremde Sprache für mich, ein anderer Weg, zu denken und zu fühlen. Ich habe nie erwähnt, dass ich einzelne Teile meiner Geschichten zwar auf Deutsch schreibe, aber durchaus auf Englisch, manchmal auch in gebrochenem Japanisch denke? Oder in Deutsch, das aber chinesischer Grammatik folgt? Was gerade besser zur Szene, Stimmung und den Figuren passt. Mein Prozess ist vielleich überkomplex. Aber er funktioniert für mich.

Sprache ist wichtig, es ist das wichtigste Werkzeug für einen Schriftsteller. Und man sollte sich nicht nur auf die Sprache festlegen, in der man schreibt. Insbesondere nicht nur auf die Grammatik. Und Musik - vor allem auch klassische Musik und Musik, die klassischen Mustern folgt - bringt ein ganz eigenes Verständnis dafür mit. Musik ist Emotion in Struktur, das macht sie stark. Und Schreiben - insbesondere Lyrik - emuliert diesen Zugang. Deswegen ja, Musik macht Bücher besser. Aber nicht mit einer Werbung für mein Spotify.

Worauf wollte ich eigentlich hinaus?

"Gentlemen's Game" (Erscheinungsdatum: Okober 2023) profitiert auch von Musik, obwohl sie im Buch slebst keine Rolle spielt. Shanties, britische Weihnachtslieder, irische Balladen, alles, was mich irgendwie in ein 1800er Mindset bringt (ja, selbst Anno 1800) haben mir dabei geholfen, dieses Monstrum aus fünf verschiedenen Versionen zu einem Werk zusammenzusetzen.

Und ganz zuletzt hat mir ein einziges Lied die Augen dafür geöffnet, was an einer meiner Höhepunktszenen eigentlich schiefläuft. Nicht eine meiner Höhepunktszenen, meiner persönlichen Lieblingsszene. Dem Teil des Buches, den ich perfekt machen möchte. Alle Versionen fühlen sich für mich flach an, ohne, dass ich sagen konnte, warum. Die Szene funktioniert, keine Testleser haben sich beschwert. Aber sie funktioniert nicht für mich. Dann bin ich auf METAKLAPA gestoßen, eine Band, die in dalmatischem Harmoniegesant Iron Maiden Songs covert. Und ich habe gefunden, was der Szene fehlt. Etwas, das nur in dem Cover von "Hallowed be Thy Name" vorhanden ist, aber nicht im Original (und um ehrlich zu sein finde ich die Originale von Iron Maiden durchweg schlechter als die Cover von METAKLAPA *hüstel*): Kraft und Verzweiflung, dicht nebeneinander.

Die Szene hatte Lieder, die mir geholfen haben. Aber sie hatte vorher nicht die richtigen, und das hat sie schwach gemacht. Dieses Wochenende steht die letzte Überarbeitung an und die Szene wird stark. Sie ist relativ weit hinten im Buch, also müsst ihr es lesen, um sie zu finden, aber ich verspreche euch, es wird sich lohnen. Und damit ihr einen kleinen Vorgeschmack bekommt, hier ein Video des Songs:

 
 

COMMUNITY TIME!

Wie sieht es bei euch aus? Nutzt ihr Musik zum Schreiben? Seid iht kleine Verrückte, wie ich, die sich ganze Soundtracks anlegen? Oder trennt ihr die Dinge voneinander?


14 Juli 2023

Satanskerker, Gentlemen's Game und der historische Thriller: 3x1 Grund, sich auf den Herbst zu freuen

 Hallo liebe Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Nach einer gefühlten Ewigkeit - also einem halben Jahr - ist es soweit. Satanskerker (Arbeitstitel Nr. 1) ist an die Testleser gegangen. Ich erwarte sehr gespannt das Feedback, damit ich in den nächsten Überarbeitungswahnsinn fallen kann. Bis dahin weiß ich nicht so recht, was ich eigentlich mit mir anfangen soll.

Der Act-Tower in Hamamatsu

Sicher, da ist Tsuru-Gumi, der Yakuza-Jugendthriller. Das   Coming-of-Age und Coming-Out des Gangster-Sohnes Ikko, der sich keinen schlechteren Zeitpunkt für seine erste große Liebe hätte aussuchen können. Vor der exotischen Kulisse der erstaunlich unbekannten großen Kleinstadt Hamamatsu entwickelt sich so das Schicksal der Zwillingsbrüder Ikko und Niko in ihrem Kampf um die Anerkennung ihres Vaters.

Tsuru-Gumi sucht übrigens auch willige Testleser, denn die Rohfassung steht schon! Als Testleser erhaltet ihr quasi einen Beta-Zugang zum ebook. Im Gegenzug erwarte ich nur, dass ihr ein paar Fragen zum Buch beantwortet und - vielleicht, wenn ihr geneigt seid - nach Release eine Rezension hinterlasst.

Auf der anderen Seite ist mein etwas wahnsinniges Projekt, aus meinem ersten eigenen "Roman" Lionheart ein funktionierndes Stück Fantasy-Geschichte zu machen. Szene für Szene gehe ich das alte Manuskript durch, schaue mir meine peinlichen Fehler an und bessere sie live aus. Am Ende des Projekts habe ich dann hoffentlich eine zusammenhängende Rohfassung, die sich mehr oder minder nahtlos an mein letztjähriges NaNo-Projekt anschließen lässt. Eine Grundlage für eine Trilogie. Wer sich für den Wahnsinn interessiert, möge mir auf Twitch oder YouTube folgen. Streams finden unregelmäßig Samstag oder Sonntag Nachmittag statt.

An der Überarbeitungsfront warten auch noch Maranaga, die Wege des Wahnsinns und die (noch sehr experimentelle) Suche nach den sieben Steinen. Und im Vorbereitungs-Ordner streitet mehr als eine Idee um das Recht, das diesjährige NaNo-Projekt zu werden. Genug zu tun ist also, neben der Vorbereitung für das Release von Satanskerker.

Worauf wollte ich hier eigentlich hinaus? Ah, genau. Ich wollte nur ein kurzes Hallo in die Welt geben und daran erinnern, dass im Herbst eine Mordermittlung im viktorianischen England auf euch wartet!

Bis dahin, frohes Schreiben!

Rhada

02 Juli 2023

Der Unterstand

 Endlich hatte sie eine Höhle gefunden, die sie vor dem herannahenden Unwetter schützen konnte. Der Eingang lag hoch über dem Boden, weit genug, um die Wogen des Hochwassers aufzuhalten. Hoch genug, um ihren Feinden den Weg zu versperren. Sie kletterte auf die seltsamen, glatten Steine im Inneren. Ein Bein nach dem anderen, rechts und links im Wechsel. Im hellen Tageslicht, das ihr durch die Öffnung folgte, erkannte sie den Abgrund und die Wand dahinter. Irgendwo dort würde sie sich einen Spalt suchen und das Wetter abwarten. Vielleicht dauerte es zwei, vielleicht auch vier Tage, dann konnte sie in die offene Welt zurück, sich einen Partner und ein Nest suchen.


Der Abgrund war tiefer und die Strecke weiter, als sie vermutet hatte. Als sie die Wand erreicht hatte, war die Sonne bereits verschwunden und nur der Mond erleuchtete blass die glatten Steine im Inneren. Ab und an zuckte ein Blitz am Himmel. Ein langer, andauernder Blitz. Nicht das rasche Leuchten des Gewitters, das sie fürchtete. Ein tonloser Blitz, mehr eine kleine Sonne, die nach kurzer Zeit erlischt.
Der Aufstieg war beschwerlich. Immer wieder rutschte sie an den glatten Steinen hinab. Glatte Steine, die seltsam rochen. Beinahe wie die Blumen auf dem weiten Feld, aber doch anders. Süßlich und scharf zugleich. Ob sich Insekten zu diesen Steinen verirrten, um sie auszulecken? Wenn ja, hatte sie großes Glück. Diese seltsame Höhle war das Paradies. Schutz vor Unwetter und Feinden, aber der falsche Geruch der Blüten lockte Beute an.


Die Dunkelheit umhüllte die Höhle nun vollständig. Sie tastete sich vorwärts. Bein für Bein, rechts und links im Wechsel, bis sie eine schmale Öffnung fand. Ein eigentümlich runder Spalt, kaum größer als ihr Hinterleib. Ein perfektes Versteck vor dem Regen. Nichts würde sie hier finden. Kein Vogel, nicht einmal eine andere Spinne. Und der Spalt fühlte sich zudem weich an. Der Geruch war gewöhnungsbedürftig, sicher. Die falschen Blumen mischten sich mit einem stumpfen Gestank, den sie nicht zuordnen konnte. Aber daran störte sie sich nicht. Sie genoss die Enge, Wärme und Sicherheit des Spalts an der Wand. Von hier aus konnte sie sogar den Eingang sehen. Kein Feind würde ihr so zu nahe kommen können. Von Sicherheit umwoben schlief sie ein.


Regen prasselte auf die Steine um ihre Höhle. Laute, wilde Tropfen. Das Unwetter weckte sie, trieb sie aus ihrem sicheren Spalt. Durch den Eingang der Höhle fiel strahlender Sonnenschein. Der Geruch der falschen Blumen erfüllte den Raum. Und immer wieder das Prasseln des Regens. Wie kam das Wasser in die Höhle? War sie in Gefahr?


Erst nervös, dann panisch zog sie sich aus dem Spalt hervor, suchte nach Halt an den glatten, seltsamen Steinen, die nun glatt vor Nässe waren. Ein riesiges Tier stand neben dem Spalt in der Höhle und starrte sie an. Es war zu groß, als dass sie es gänzlich erfassen konnte, aber sie spürte den Blick. Sie bewegte sich nicht. Sie konnte sich tot stellen, ganz, wie es ihre Art war. Aber der Regen staute sich in der Höhle. Wenn sie von der Wand fiel, würde sie auf das Wasser treffen und elendiglich ertrinken. Sie musste weg. Raus aus dem Regen, weg von dem großen Tier. Sie verstand nicht einmal, wie ein so großes Tier durch die kleine Öffnung der Höhle gepasst hatte.


Der Regen hörte auf. Das Tier wendete sich ab, griff nach einem riesigen Stein am Boden. Der Geruch falscher Blumen betäubte für einen Moment ihre Sinne. Sie durfte sich nicht aufhalten lassen. Sie musste fliehen. Höher, weiter, an die Decke der Höhle. Der Aufstieg war anstrengend. Ihre Beine mit den kleinen Klauen fanden kaum Halt. Die winzigen Poren der Steine waren mit Wasser gefüllt, ließen sie immer wieder abrutschen.


Der Regen begann von Neuem.


Sie blieb stehen, suchte einen besseren Aufstieg. Unter ihr glänzte ein metallener Vorsprung, der sich allmählich mit heißer Feuchtigkeit überzog. Die Luft verwandelte sich in Nebel, der in ihren Tracheen kondensierte. Sie hielt inne. Vielleicht musste sie nicht weiter fliehen. Das Tier interessierte sich nicht mehr für sie und der Regen schien sie nicht zu erreichen.


Wieder setzten die Tropfen aus. Das Tier trat an ihr vorbei, würdigte sie keines Blickes. Es verschwand im Nebel, der die Höhle ausfüllte und kehrte nicht mehr zurück. Sie wartete, bis die Nacht erneut hereinbrach. Das Unwetter war vorbei, sie kehrte in die offene Freiheit zurück.

25 Juni 2023

Scheckkartenspuckender Snackautomat

 Es war ein gewöhnlicher Donnerstagvormittag, so gegen elf Uhr, ich stand am Frankfurter Hauptbahnhof und wartete auf eine U-Bahn zum Willy-Brand-Platz.


Ich war froh, in der urinverseuchten U-Bahn-Station zu sein. Draußen war es kalt und selbst auf den oberirdischen Bahnsteigen noch windig, doch hier in der Station staute sich die Luft, was eine gemütliche Wärme mit sich brachte. Mein Blick fiel auf die Anzeigetafeln für die U-Bahn-Linien. U5 in vier Minuten. Ich trottete zu den Rolltreppen, die unter der Station hindurch zu den S-Bahnen führen, um mir die polierten Kalksteine anzusehen, mit denen die Wände dort verkleidet sind. Auf einer der Platten sind eindeutig Fossilien zu sehen; mehrere, auch sehr große Gehäuse irgendwelcher Tiere, aber außer einer winzigen Schnecke kann ich keine der Formen irgendeinem Wesen zuordnen. Sie sehen aus wie riesige Pantoffeltierchen.


Auf dem Weg zu den Kalksteinplatten kommt man an einem der Snackautomaten vorbei, die die Verkehrsbetriebe auf den großen Bahnhöfen aufstellen. Diese unseligen Dinger, in denen wenigstens fünfzig Prozent der Waren bezahlt im Gehäuse hängen bleiben. Ich hatte schon mal Ärger mit der Bahnhofspolizei, weil ich einen der Automaten deshalb geschüttelt hatte.


Als ich an dem Gerät vorbeiging, hörte ich ein leises Klacken, wie wenn ein Stück Pappe auf den Fußboden fällt. Ich sah mich um. Der Automat hatte eine kleine, blaue Scheckkarte ausgespuckt, die jetzt vielleicht einen Schritt von dem Gerät entfernt am Boden der U-Bahn-Station lag. Ich blieb stehen und sah abwechselnd zwischen der Karte und dem Automaten hin und her. Ein Besitzer der Karte war unter den Fahrgästen auf dem Bahnsteig nicht auszumachen. Was tut man in so einem Fall? Die Karte ignorieren, so tun, als hätte man nichts gesehen? Das hier war ein Bahnhof, wer wusste, in welche Hände die Karte dann gelangen würde? Die Polizei rufen? Wegen einer herrenlosen Scheckkarte, die aus einem Automaten gespuckt wurde? Das Fundbüro? Mein Blick begegnete dem einer Frau in den Vierzigern, die das Ganze ebenfalls gesehen hatte.


»Die kam gerade aus dem Automat«, murmelte die Frau.


»Mmhm.« Ich ging auf die Karte zu.


»Aber hier ist niemand ...«


Ich bückte mich nach der Karte und hob sie auf. Es handelte sich nicht um eine Bank- oder Scheckkarte, sondern um eine Art Ausweis. Die Frau kam auf mich zu und sah mir über die Schulter. »Was ist das?«


Ich drehte das blassblaue Stück Plastik zwischen den Händen herum. Sie zeigte das Logo der Firma Opel, dazu die Aufschrift »Der Opel-Vertragshändler Ihres Vertrauens« und einige Daten, darunter den Namen des Vertreters, zu dem die Karte vermutlich gehörte. Ich wollte der Frau meinen Entschluss mitteilen, die Karte zum Fundbüro zu bringen, als sich ein junges Pärchen in das Gespräch einmischte. Die beiden hatten die ganze Zeit über in der Nähe der Infosäule gestanden. Sie hatte langes, strähniges, schwarzes Haar und überaus fettige Haut. Ihre Kleidung war ungewaschen. Er hatte blonde Locken, trug eine zerrissene Jeans und ein ausgewaschenes Hemd. In den Händen hielt jeder von ihnen eine Bierflasche. Er kam einen Schritt auf uns zu und wedelte mit der freien Hand, dabei rief er: »Ey! Die is uns!«


Die Frau und ich sahen uns an. Sie hatte eine Augenbraue gehoben und ihre Lippen zusammengepresst. Sie antwortete: »Wie, die Karte gehört Ihnen?«


»Ja. Die is uns«, begann der Obdachlose zu erklären: »Die ha’m wir da oben von so’nem Typen gekriegt. Hat die uns einfach in die Hand gedrückt. Die Karte is uns.«


»Genau«, sagte seine Partnerin: »Einfach gegeben hat der die uns. Wir kannten den Typ gar nicht.«


»Schmeißen Se die am Besten weg. Keine Ahnung, wo der Typ die hergehabt hat. Gibt nur Ärger mit sowas. Wir wollen keinen Ärger. Sie auch net. Heißt sonst noch, wir hätten’s geklaut. Oder Sie.«


Ich wollte die Karte gerade einstecken und die Sache mit dem Fundbüro erklären, als der Kerl auf mich zukam und mir die Ausweiskarte aus der Hand zog. Er ging damit zu dem kleinen, viereckigen Mülleimer neben dem Snackautomaten und pfefferte sie dort hinein. Die Frau und ich sahen im verwirrt dabei zu.


»So is besser. Kein Ärger. Sie kriegen keinen, wir ha’m keine, alles gut.« Er gesellte sich wieder zu seiner Partnerin, als die U-Bahn einfuhr und die einsteigenden Massen mich für einen Moment von der Karte ablenkten.

18 Juni 2023

Navi in Belgrad

 »Pjotr! Sie haben geantwortet! Ich kann sofort anfangen!« Marija wedelte mit dem Brief vor der Nase ihres Verlobten herum.


Pjotr nahm ihr Handgelenk und drückte es sanft herunter. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch der Meinung, dass an diesem Krankenhaus etwas nicht stimmt. Der Lohn ist zu hoch und sie bezahlen dir sogar das Hotel, damit du in der Probezeit in der Nähe wohnen kannst. Ich bitte dich.«


»Du bist ein Griesgram. Freu dich lieber. Das ist die beste Stelle, die ich als Kinderärztin überhaupt bekommen kann.«


»Vielleicht. Wenn du denn in dem Krankenhaus überhaupt noch Patienten haben wirst. Ist das nicht diese Säuglingsklinik mit Entbindungsstation? Wo in den letzten Wochen immer wieder Schwangere gestorben sind?«


Marija seufzte, legte den Brief auf dem Tisch ab und setzte sich. Sie sah Pjotr tief in die Augen. »Ja, das ist die Klinik. Sie hatten ein paar Unglücksfälle in der letzten Zeit. Das kann in jeder Klinik passieren. Ich werde mir die Klinik jedenfalls ansehen. Du weißt, dass wir kein Geld haben, damit ich eine eigene Praxis aufmachen kann. Ich werde nach dem Essen packen und nach Belgrad fahren.«


»Wann kommst du wieder?«


»Mal sehen, wann ich frei habe. Wenn ich die Stelle behalte, müssen wir umziehen, irgendwann.«
»Wenn du die Stelle behältst. Nicht, dass ich sie dir nicht gönne, aber ich habe ein ganz schlechtes Gefühl dabei.«


»Du bist blöde.« Marija lachte und griff nach der Milchflasche.


Nach dem Frühstück stand sie auf und ging ins Schlafzimmer, um die nötigen Sachen zusammen zu packen. Die Klinik bezahlte ihr ein Hotel inklusive Essen und Ausgaben für Wäscherei. Vermutlich ging dies von ihrem Einstellungsgehalt ab, aber das war Marija egal. Auf diese Weise entfiel die leidige Suche nach einer Wohnung in dem Belgrader Vorort, in dem sich die Klinik befand. Sie verabschiedete sich von ihrem Verlobten und fuhr zu ihrem Hotel, wo sie die Koffer abstellte und sich sofort wieder auf den Weg machte. Diesmal fuhr sie zu ihrer neuen Arbeitsstelle.


Die kleine Klinik lag nicht wiet von dem Hotel entfernt. Vermutlich war es für die Eltern der kranken Babys gebaut worden oder für die Männer der Frauen, die hier auf ihre Entbindung warteten. Das Gebäude selbst war neu und luftig und erstaunlich leer. Marija ging an den Empfangstresen und stellte sich vor, um kurz darauf mit dem Leiter des Krankenhauses zu sprechen. Anschließend wurde sie von einer kräftigen Frau abgeholt und durch das Gebäude geführt.


»Ich heiße Andjela, es ist schön, Sie kennenzulernen, Frau?«


Marija winkte lächelnd ab. »Nennen Sie mich Marija. Sie sind die Oberschwester?«


»Ja. Ich bin für die Entbindungsstation zuständig. Leider sind Sie zu einem schlechten Zeitpunkt hier angekommen, Marija. Das Krankenhaus stirbt.«


»Es stirbt? Ist das nicht etwas dramatisch ausgedrückt?«


»Keineswegs.« Andjela blieb stehen. Sie wandte sich zu Marija um, sah jedoch an ihr vorbei. »Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen? In unserem Krankenhaus sterben Frauen, Wöchnerinnen und Schwangere. Deshalb kommen immer weniger Frauen zur Entbindung hierher. Viele bringen auch ihre Kinder lieber in ein anderes Krankenhaus. Wenn das so weitergeht, müssen wir zu machen.«


»Ich habe von den Fällen gehört. Was genau ist passiert?«


»Die Kollegen reden von einem Fluch, nicht, dass ich das glauben würde. Ich bin nicht abergläubig. Sind Sie abergläubig?«


Marija schüttelte den Kopf.


Andjela seufzte. »Die Frauen sterben nachts. Sie legen sich am Abend zuvor in ihr Bett und schlafen, am nächsten Morgen sind sie tot. Wir Schwestern finden sie im Bett in einer Blutlache liegen. Es sieht aus, als hätte sie irgendjemand mit einem langen, scharfen Gegenstand in den Uterus gestochen und sie dann verbluten lassen. Außerdem wurden die Frauen gemolken.«


»Warum sollte jemand so etwas tun?« Marijas Augen weiteten sich vor Entsetzen.


Die Oberschwester zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht sind es Konkurrenten unserer Klinik, wer weiß das schon? Viel seltsamer sind die Vorfälle, wenn sie eine Hochschwangere betreffen. Den Toten fehlt das Fruchtwasser und der Fötus ist ebenfalls verblutet.«


»Was? Warum sollte jemand das Fruchtwasser stehlen?«


»Das verstehen wir auch nicht. Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass es sich um eine krude Sekte handelt. Es gibt doch mittlerweile alle möglichen organisierten Verrückten. Vielleicht glauben sie, dass das Fruchtwasser ihnen ewiges Leben verleiht oder sie beten einen Gott in Form eines Neugeborenen an, was weiß ich. Die Regierung sollte wirklich etwas dagegen tun.« Andjela griff an das kleine Kruzifix an ihrem Hals und umschloss es mit der Hand.


Marija presste ihre Lippen zusammen. »Das klingt alles sehr merkwürdig.«


»Das ist es auch. Ich an Ihrer Stelle würde gar nicht erst anfangen, hier zu arbeiten. Gehen Sie zum Chef zurück und sagen Sie ihm, dass Sie es sich anders überlegt haben. Fahren Sie nach Hause zurück und kommen Sie besser nicht mehr hier her.«


»Das ist doch lächerlich.« Marija machte eine heftige Geste. »Nein, ich werde hierbleiben. Ganz gleich, ob es ein Fluch ist, eine Sabotage oder eine Sekte. Das wird auch wieder vorbeigehen.«
Und Marija blieb. Sie lebte in dem kleinen Belgrader Vorort in ihrem Hotel und verbrachte viel Zet im Krankenhaus. Sie bemühte sich, die Frauen und Kinder kennenzulernen und ein gutes Verhältnis mit ihren Kollegen aufzubauen. Seit sie in der Klinik angefangen hatte, hatte es noch keinen Vorfall gegeben. Dennoch ließen Marija die Gedanken an die Geschichte nicht los, die Andjela ihr erzählt hatte.


Sie beschloss, nach der nächsten Spätschicht im Krankenhaus zu bleiben und sich nächtens dort umzusehen. Irgendwo mussten sich doch Hinweise auf die Vorgänge finden lassen. In ihrer ersten Woche hatte man ihr noch keine Nachtschichten zugeteilt, wodurch sie die Klinik noch nie bei Dunkelheit betreten hatte.


Sie beendete ihre Schicht und setzte sich anschließend in einen kleinen Aufenthaltsraum, wo sie zwei Tassen Kaffee trank. Sie beobachtete die fortschreitende Dunkelheit durch das Fenster und als es dunkel genug war, stand sie auf und ging durch die Gänge.


Das Krankenhaus lag vollkommen still da, Marija konnte ihre Schritte und ihren Atem hören. Die Notlichter auf den Fluren waren die einzige Beleuchtung, doch auch sie konnten die Dunkelheit nicht fernhalten. Überall herrschte Zwielicht. Sie passierte das Schwesternzimmer, aus welchem gedämpftes Reden auf den Gang hinaus klang und für einen Moment Marijas Schritte übertönte. Dann waren die Frauen außer Hörweite und die junge Ärztin war wieder mit sich und der Stille allein.


Eine der Lampen auf dem Gang flackerte. Marija blieb stehen und sah dem unruhigen Hell-Dunkel zu, bis sich das Licht wieder gefangen hatte und blass gegen die Nacht ankämpfte. Sie ging weiter. Aus einem der Zimmer drang ein Geräusch wie das Flügelschlagen eines flatternden Vogels. Sie blieb stehen und lauschte. Etwas kratzte hinter der Tür über den Boden, hielt inne und schrei dann gell auf. Das Geräusch zerriss die allgegenwärtige Stille mit einer viel zu hohen Frequenz. Marija konnte das Gekreisch kaum hören, vielmehr spürte sie es in ihren Knochen. Es war ein Gefühl, als ob jemand eine Gabel über ihre Wirbelsäule ziehen würde. Sie schüttelte sich, stürmte in das Zimmer, aus welchem das Geräusch kam, und erstarrte beim Anblick dessen, was darin geschah.


Ein Vogel, etwa so groß wie ein fünfjähriges Kind, kauerte vor dem Fußende des einzigen belegten Bettes. Er hatte seinen langen Schnabel in den Unterleib der Frau gesteckt, die das Zimmer bewohnte, und schien genüsslich aus ihrer Gebärmutter zu trinken. Seine dunklen Federn spiegelten fahl das Notlicht vom Gang wieder, als seien sie aus einem glänzenden Metall gefertigt. Sein Kopf war kahl wie der eines Geiers und mit kaltem Entsetzen stellte Marija fest, dass das Wesen keine Augen besaß.
Marija zitterte, ihr war kalt und ihr Mund war vollkommen trocken. Gleichzeitig spürte sie, wie Schweiß auf ihre Stirn trat. Sie taumelte einen Schritt zurück, wollte fliehen, doch sie wagte es nicht, dem Wesen den Rücken zuzudrehen. Das leise Schmatzen, mit dem der Vogel die Frau aussaugte, jagten Marija Gänsehaut über den Rücken. Im Augenwinkel sah sie eine Bewegung hinter dem Vorhang. Sie wandte den Kopf langsam ab, so, dass sie den Vogel am Bett noch sehen konnte.
Neben dem Fenster zog sich ein Schatten aus der Wand heraus. Langsam nahm er Form in den Raum hinein an. Ein Schnabel wuchs aus der Dunkelheit, dann ein Kopf und ein gefiederter Körper. Ein zweiter Vogel stand neben dem Vorhang, schüttelte sich und sandte dasselbe knochenschindende Kreischen aus wie das Tier am Bett. Dann watschelte er auf Marija zu.


Sie wusste nicht, ob sie schrie. Sie konnte sich selbst nicht hören, ihr Herz pochte viel zu laut. Sie ging rückwärts auf den Gang, bis sie mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand anstieß. Der zweite Vogel kam langsam auf sie zu. Sie sah sich um und floh, einem Impuls folgend, in Richtung Notausgang. Der Vogel hinter ihr beschleunigte seine Schritte. Der Gang war zu schmal, als dass das große Tier hätte fliegen können.


Marija rannte schneller. Sie sah sich nicht mehr um. Vor ihr leuchtete grün das Schild ›Notausgang‹. Sie öffnete die Tür und stolperte eine Feuertreppe hinab in den Garten des Krankenhauses und von dort hinaus auf die Straße. Erst da sah sie wieder zurück.


Der Vogel saß auf dem Geländer der Feuertreppe und schlug heftig mit den Flügeln. Er verfolgte sie nicht mehr.


Sie sah sich um. Entstanden hier aus der Nacht noch mehr dieser Wesen? Sie musste weg. Weit weg. Pjotr und Andjela hatten recht. Es war dumm gewesen, hierher zu kommen. Sie lief zum Hotel. Morgen würde sie aufbrechen. Sofort. Nein, nicht sofort. Erst musste sie Andjela von der Begegnung erzählen. Aber sie würde dieses Gebäude nie wieder in der Nacht betreten.


Sie saß im hell erleuchteten Hotelzimmer und wartete darauf, dass die Nacht vorbeiging. Mit den ersten Sonnenstrahlen stand sie auf und kehrte zum Krankenhaus zurück. Der Vogel auf dem Geländer war verschwunden, die Angestellten im Krankenhaus waren in heller Aufregung. Marija bahnte sich ihren Weg durch die wogende Masse an Ärzten und Schwestern ins Schwesternzimmer. Sie setzte sich auf einen Stuhl und wartete, dass Andjela zu ihrem Dienst auftauchte.


Eine Hand an ihrer Schulter holte sie in die Realität zurück. Sie blinzelte und sah in das Gesicht der Oberschwester.


Andjela lächelte und reichte ihr einen Kaffee. »Was gibt es? So früh schon hier?«


»Ich war gestern nach im Krankenhaus, als die Frau umgekommen ist.« Marija nahm einen Schluck. »Ich habe gesehen, was passiert ist. Es war so unwirklich. Da war ein riesiger dunkler Vogel, er hat seinen Schnabel in die Frau gesteckt und von ihr getrunken. Ein zweiter Vogel kam aus der Wand und hat mich angegriffen, aber ich konnte fliehen. Er hat mich nicht weiter als bis zum Ausgang verfolgt.«
Andjela legte die Stirn in Falten, doch ihr Blick war aufmerksam und keineswegs zweifelnd. »Sie waren sicher wach?«


»Ganz sicher. Die Vögel hatten einen langen Schnabel. Sie waren ungefähr so groß wie Schulkinder und blind. Ihre Köpfe waren ganz nackt.«


Die Oberschwester stellte ihren Kaffee ab, stand auf und holte ein Buch aus einem kleinen Regal neben der Tür. Sie blätterte schweigend darin und gab es schließlich aufgeschlagen an Marija. »Es gibt auf dem Land die Legende, dass die Seelen totgeborener Kinder als Vögel in die Welt zurückkehren. Sie stehlen Milch von säugenden Frauen und säugendem Vieh und töten aus Rachsucht Schwangere. Man nennt sie Navi.«


Marija betrachtete die Illustration in dem Buch. »Das waren die Vögel, ganz sicher.« Sie sah Andjela an. »Man sagt, nur diejenigen, die zur gleichen Stunde wie das tote Kind geboren sind, seien in der Lage, die Navi zu sehen. Vor rund achtundzwanzig Jahren wurden hier Zwillinge geboren. Einer starb bei der Geburt, der andere wenige Stunden später. Damals gab es den Flügel noch nicht, wo heute die Entbindungsstation ist, da war der Friedhof.«


»Und diese Vögel, die ich gesehen habe ...?«


»Waren Navi. Vielleicht.« Andjela seufzte und nahm ihren Kaffee.


Marija widmete sich dem Buch. Tatsächlich waren die Navi Geistwesen aus alten Legenden. Alles, was Andjela ihr erzählt hatte, stand in ähnlicher Weise auch in diesem Buch. Aber konnte es diese Wesen geben, die nur von wenigen Menschen gesehen werden konnten? Warum sollten sie so rachsüchtig sein? Sie sah auf.


Andjela zuckte mit den Schultern. »Sie wollten Leben. Vielleicht ist es keine Rache, vielleicht ist es nur der verzweifelte Versuch, zu leben.«


»Wie kann man sie aufhalten?«


»Eine Seele verlässt den Raum durch ein Fenster und findet durch Feuer zum Himmel. Mit der zeit hat man hier in der Gegend keine Leichen mehr verbrannt, vor allem nicht die von Säuglingen. Die Eltern wollten es nicht. Mit Sicherheit liegen hier irgendwo unter dem Krankenhaus die Überreste der Zwillinge.«


»Dann müssen wir sie verbrennen.« Marija klappte das Buch zu und gab es an die Oberschwester zurück.


»Und wie stellen Sie sich das vor? Das Krankenhaus steht auf dem Friedhof.«


Marija seufzte. Sie stand auf und ging in das Hotel zurück. Andjela hatte recht, man konnte nicht einfach das Krankenhaus anzünden. Ob man dem Direktor von den Navi erzählen konnte? Würde er es glauben? Sie schüttelte für sich selbst den Kopf. Nein, man musste anders vorgehen. Sie musste einen guten Plan fassen. Vielleicht half die Idee mit der Sekte weiter.


Am Nachmittag hatte sie sich entschieden. Sie nahm das Telefon in ihrem Hotelzimmer und rief Pjotr an. »Pjotr? Ich bin’s, Mari. Ja, mir geht es gut. Ich brauche deine Hilfe.«


Sie schwieg einen Moment. »Ich will, dass du in Belgrad bei der Polizei anrufst. Du musst einen anonymen Hinweis abgeben, dass eine Sekte einen Anschlag auf das Krankenhaus geplant hat, in dem ich arbeite. Sie wollen das Gebäude mit einer Bombe in die Luft sprengen. Die Polizei soll schnellstmöglich alle Patienten aus dem Gebäude schaffen und das Personal warnen. Ich erkläre dir die Sache, wenn ich wieder zu Hause bin. Tu mir den Gefallen, ja? Ich liebe dich.«


Sie kehrte ins Krankenhaus zurück und verließ es nicht mehr, bis die Polizei aus Belgrad eintraf und das Gebäude räumen ließ. In der allgemeinen Hektik setzte sie sich ab und verschwand in den Keller, in den Raum, wo die Putzutensilien lagen. Sie suchte nach Verdünner und alten Besen und Handfegern aus Holz und Tierhaar, die sich gut anzünden ließen. Anschließend brachte sie alles in einen abgelegenen Raum, stapelte die Besen und setzte es in Brand. Sie rannte aus dem Gebäude und schloss sich den flüchtenden Patienten und Kollegen an. Auf dem Hof entfernte sie sich erneut aus der Gruppe und legte Feuer an die Blumenbeete. Es dauerte eine Weile, bis aus den Schwelbränden richtige Flammen wurden. Marija wartete, bis die Polizei die Feuerwehr alarmiert hatte und beobachtete währenddessen die Flammen. Unter all dem Knacken und Knistern glaubte sie, ein gellendes Schreien zu hören. Die Navi konnten den Weg in den Himmel finden. Vielleicht. Wenn das Feuer stark genug war.

11 Juni 2023

Der Antipode

 Sie sah erst auf die große Bahnhofsuhr, dann auf ihre Armbanduhr und zuletzt auf ihr Handy. Der Bus war heute tatsächlich pünktlich gewesen und sie hatte noch Zeit, vor der Abfahrt ihres Zuges in den Bahnhofskiosk und zum Bäcker zu gehen. Die neueste Reiterzeitschrift, um unterwegs zu lesen und zwei Schokobrötchen und eine Flasche Cola, um das viel zu karge Frühstück auszugleichen.


Sie konnte sich auch für die halbe Stunde vor der Abfahrt schon in den Zug setzen und ein wenig vor sich hindösen oder vielleicht sogar schlafen. Schlafen kostete weniger Geld und hatte weniger Kalorien als Zeitschriften und Schokobrötchen. Sie betrachtete den Zug, die Türen standen offen. Sie entschied sich dafür, einzusteigen und aus dem Fenster zu starren oder in ihrem Buch zu lesen, und hielt mit großen Schritten auf das Abteil zu. Die rote Lokomotive ließ zischend Luft ab, als Anette auf einer Höhe mit der Fahrertür war. Sie erschrak nicht, sie hatte immer das Glück, dass solche Dinge genau neben ihren Ohren passierten. Sie hörte das Geräusch kaum, welches für den Augenblick alle nahen Gespräche übertönte.


Sie trat an die Tür des Doppelstockwagens und drückte auf den Knopf, die beiden Flügel glitten auseinander, aus dem Lautsprecher ertönte ein nervtötendes Klingeln, um alle Leute zu informieren, dass nun die Tür offen war. Anette schüttelte den Kopf und setzte einen Fuß auf die Treppe, die ins Innere des Wagens führte. Dabei fielen ihr einige weiße Fußspuren auf, die aus dem Zug hinausführten. Jemand schien im Vorraum in weiße Farbe oder zumindest in Joghurt getreten zu sein. Vermutlich war er an der Station vor ihrem Bahnhof ausgestiegen, die Spuren waren kräftig und schienen frisch.


Sie schüttelte erneut den Kopf. Dass die Leute nicht in der Lage waren, im Zug zu essen. Immer lagen irgendwo Essensreste herum oder es waren irgendwelche Flecken auf dem Boden oder den Polstern. Vielleicht hatte auch jemand absichtlich Joghurt ausgekippt, irgendeine vandalische Mutprobe unter den ach so coolen Jugendlichen. Die Kinder heutzutage hatten einfach nichts mehr zu tun und kein Benehmen noch dazu. Es war wie in dieser japanischen Fernsehserie, wo ein paar Schuljungen einem Yakuza-Boss versuchten, zu erklären, wie das Leben als Gangster funktionierte. Zumindest als das, was sie dafür hielten. Sie kicherte und ging auf die Treppe zu, die vom Vorraum in die untere Wagenhälfte hinabführte.


Sie saß mit Vorliebe hier unten, wo das Dach nicht so niedrig und die Außenwände gerade waren. Vorzugsweise auf einem ganz bestimmten Platz im hinteren Drittel des Wagens. Sie konnte sehr unausgeglichen werden, wenn alle ihre Lieblingsplätze von anderen Fahrgästen belegt waren, insbesondere dann, wenn die anderen Leute die Auswahl zwischen allen Sitzen des Abteils hatten. Vermutlich mochten andere Leute diesen Platz auch sehr gerne, trotzdem fühlte sich Anette persönlich angegriffen, wenn sie nicht dort sitzen konnte. Heute galt ihre Aufmerksamkeit allerdings nicht der Suche nach dem richtigen Platz.


Die weißen Fußspuren kamen aus dem unteren Abteil. Sie führten vom Gang die Treppe hinauf und zur Tür. Anette bereitete sich im Geiste darauf vor, irgendwo in diesem Abteil eine weiße Pfütze aus Molkereiprodukten vorzufinden, vorzugsweise vor dem Sitz, den sie für sich ausgewählt hatte. Sie folgte den Spuren die Treppe hinab und blieb neben dem einzelnen Stuhl am Fuß der Treppe stehen.
Sie starrte auf die Spuren. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musterte die Fußabdrücke eine Weile, ehe ihr auffiel, was an ihnen so unwirklich war. Die Zehen deuteten in Richtung der Wagentür, jemand war also aus dem Abteil herausgegangen. Die Spuren begannen irgendwo in diesem Abteil und ihr Verursacher war durch die Tür ausgestiegen, durch welche Anette in den Zug gekommen war. Aber wenn die Joghurtpfütze irgendwo im Abteil lag, mussten die Spuren vom Abteil zur Tür hin blasser werden, doch das Gegenteil war der Fall. Je näher die Abdrücke der Tür waren, desto kräftiger waren sie auch.


Anette legte die Stirn in Falten. War irgendjemand rückwärts in den Zug eingestiegen und rückwärts zu seinem Platz gegangen? Warum sollte jemand so etwas vollkommen unsinniges tun? Sie zog sich an der Unterlippe, schüttelte den Kopf und beschloss, den Spuren bis zu der Stelle zu folgen, an der sie sich verloren. Ihre Fantasie übernahm währenddessen die Kontrolle über ihren ansonsten ehr rationalen Verstand. Vielleicht handelte es sich bei dem Verursacher der Spuren um einen Kriminellen, der allen Leuten Glauben machen wollte, er habe den Zug verlassen statt betreten? Vielleicht verbarg sich ein Killer in der Gepäckablage über den Sitzen. Ihr Blick glitt an der Wand entlang nach oben. Nein, in diese Gepäckablage würde kein erwachsener Mensch hineinpassen. Nicht einmal ein Kleinwüchsiger mit Knochen aus Gummi. Selbst ihr eigener Rucksack, in dem sich nur ein Buch, ein Block, eine Flasche mit Wasser und einige Stifte befanden, war gerade noch schmal genug, um dort verstaut werden zu können. Sie musste über ihre eigenen Gedanken kichern. Ein Killer in der Gepäckablage. Selbst Hollywood würde nicht auf eine so dumme Idee kommen.


Die Spuren führten an dem Platz vorbei, welchen Anette als ihr Eigentum betrachtete. Sie legte ihre dünne Jacke und ihren Rucksack dort ab, um den Platz schon einmal für sich zu beanspruchen, ehe sie sich weiter umsah. Die Abdrücke waren hier sehr blass und nur noch teilweise vorhanden. An einem Platz schräg gegenüber von ihrem eigenen, in Richtung der anderen Wagentür, endeten sie abrupt. Der Platz war leer.


Sie sah unwillkürlich zur Gepäckablage hinauf, die ebenfalls leer war. Sie schnaubte und schüttelte den Kopf. Was hatte sie erwartet? Al Pacino mit einer Uzi, auf der Lauer nach abtrünnigen Untergebenen? Sie stand in einem Zug, nicht am Set eines Gangsterfilms. Sie sah noch einmal zu dem Platz, ging darauf zu und betastete das Polster. Es hatte dieselbe Temperatur wie alles andere in diesem Zug, n den letzten Minuten hatte also niemand hier gesessen. Außerdem lagen weder Jacke noch Taschen auf dem Sitz oder in der Gepäckablage. Niemand schien den Platz beansprucht zu haben. Vielleicht war der Fahrgast doch vorher ausgestiegen. Aber warum wurden die Spuren dann zur Tür hin kräftiger?
Anette biss die Zähne aufeinander und zog eine Grimasse, dabei ging sie auf ihren eigenen Platz zurück. Sie zog ein Buch aus der Tasche und begann, zu lesen. Dabei verlor sie jedoch immer wieder ihre Konzentration. Sie sah sich über die Schulter nach dem Platz um, vielleicht war der Fahrgast mit den dreckigen Schuhen ja nur auf der Toilette. Vielleicht kam er wieder. Vielleicht hatte er sich seine Schuhe gesäubert. Sie lachte.


Der Zug setzte sich in Bewegung, ratterte aus dem Bahnhof und nahm Fahrt auf. Ein Schaffner patrouillierte durch das Abteil und kontrollierte die Fahrkarten der wenigen Gäste. Anette legte das Buch zur Seite und zeigte ihren Studentenausweis, der gleichzeitig als Fahrkarte für ihre tägliche Strecke diente. Sie sah an dem Zugbegleiter vorbei auf den leeren Platz schräg hinter ihr. Der Schaffner setzte seinen Rundgang fort, ohne dass seine Füße den weißen Flecken auswichen. Er beachtete den leeren Platz nicht, vor dem die Spuren endeten.


Anette hob eine Hand. »Entschuldigung?«


Der Schaffner blieb stehen und sah sich zu ihr um. »Was kann ich für Sie tun?«


»Wissen Sie, ob vorhin jemand auf dem Platz gesessen hat?«


Der Schaffner folgte mit seinem Blick ihrer Geste auf den leeren Platz. Er zuckte mit den Schultern. »Sicher. Zwischen Höchst und Camberg ist der Zug immer voll. Warum fragen Sie? Haben Sie etwas verloren?«


»Das nicht. Ich wollte nur, ähm.« Sie tippte sich mit dem Finger an die Lippen und sah auf die Fußspuren. »Wegen der Flecken auf dem Boden.«


»Welche Flecken?«


»Schon gut.« Anette winkte ab. »Ist nicht so wichtig. Schmutzige Schuhe passieren eben, nicht wahr?«
Der Schaffner sah sie verwirrt an, wandte sich ab und setzte seine Runde fort. Der Zug hielt an der nächsten Station, etliche Leute strömten ins innere des Wagens, doch der Platz blieb noch immer leer.
Ob sich der Rückwärtsgeher vor dem Schaffner auf der Toilette versteckte? Dann war der Gedanke eines Kriminellen nicht ganz so abwegig. Vielleicht kein so großer Krimineller wie ein Auftragskiller oder ein Mafioso, aber immerhin, Schwarzfahren war eine Art Unterschlagung und damit eine kriminelle Handlung. Auf dem Niveau der japanischen Möchtegern-Yakuza aus dieser Serie. Mit einem großen wirtschaftlichen Schaden für den öffentlichen Nahverkehr, die Bahn und alle anderen Fahrgäste.
Sie sah aus dem Fenster und gähnte. Der Zug verließ den Bahnhof, der kleine Ort zog vor ihrem Blick vorbei, ihm folgen Felder und bewaldete Hügel. Auf einem Hügel erhoben sich noch immer die Skelette der Sonnenblumen des letzten Jahres. Es gab kaum einen beklemmenderen Anblick, als die toten, graubraunen Stängel abgestorbener mannshoher Pflanzen.


Sie blinzelte einige Male. Von allem, was sie bisher in ihrem Leben erlebt hatte, war diese Spuren die mit Abstand seltsamste Begebenheit. Vor allem, weil der Verursacher der Spuren nicht zu existieren schien. Ein Geräusch durchbrach ihre Gedanken, sie sah sich um. Klopfte der Schaffner an die Toilettentür oder bildete sie sich den Ton nur ein? Der Platz war noch immer leer. Auf dem Boden davor waren blasse Fußspuren. Sie lauschte angestrengt. Im Abteil war es still, niemand klopfte an irgendwelche Türen.


Anette nahm ihren MP3-Player hervor, setzte die Kopfhörer auf und hörte Musik. Sie sah wieder aus dem Fenster. Ihre Augen brannten. Nur einen Moment die Lider schließen, damit sich die trockenen Augen erholen konnten.


Sie schloss die Augen. Ihre Musik war leise genug, dass sie das Rattern der Räder durch sie hindurch hören konnte. Ein gleichmäßiges, beruhigendes Geräusch. Sie presste die Unterschenkel an die Rückenlehne vor ihr und kuschelte sich in das Polster ihres Sitzes. Sie hatte die Musik immer so leise, dass sie alle anderen Geräusche durch sie hindurch hören konnte. So wusste sie, dass sie niemanden mit der Musik störte. Außerdem fühlte sie sich sicher, wenn sie noch etwas von ihrer Umgebung mitbekam.
Etwas knackte und knarzte, das Abteil schaukelte heftig hin und her. Anette erwachte aus ihrem flachen Schlaf. Wie viele Stationen hatte sie schon verschlafen? Wo waren sie? Warum war sie wach? Die Durchsage? Nein, eher nicht. Vielleicht die Rückenschmerzen, die die seltsame Haltung verursacht hatte oder das eingeschlafene Bein. Sie gähnte, setzte sich aufrecht hin und streckte die Arme von sich. Sie sah aus dem Fenster. Die Schilder des vorletzten Bahnhofs vor der Endstation zogen vornüber. Sie stockte. Irgendetwas beobachtete sie. Sie konnte die Blicke deutlich spüren.


Sie griff nach ihrem Buch, welches von ihren Beinen gerutscht war und auf dem Boden des Abteils lag, dabei sah sie sich verstohlen um. Sie konnte die weißen Fußspuren auf dem Boden sehen und schlagartig kamen ihre Gedanken vom Anfang der Fahrt zurück. Al Pacino als Schwarzfahrer im Gepäcknetz der Zugtoilette.


Sie kicherte, nahm ihr Buch und wollte es in den Rucksack stecken, doch sie hielt inne. Sie sah auf den Platz zwei Sitze schräg hinter ihrem. Ihr Herz raste, sie zitterte. 


Für einen Moment war es, als höre die Welt auf zu existieren und es gab nur noch sie und das Wesen auf dem Sitz schräg hinter ihrem und selbst diese letzten Überlebenden der großen Auslöschung befanden sich schon im Vergehen. Ihre Wahrnehmung endete um den Fremden herum. Die Welt war schwarz-weiß und grobkörnig, wie ein alter Film.


Sie presste die Augen zusammen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn. Sie öffnete sie langsam wieder, blinzelte einige Male und sah auf.


Das Wesen saß noch immer dort auf dem Platz schräg gegenüber von ihrem eigenen. Es hatte eine eindeutig menschliche Gestalt und sah einem ihrer Professoren sehr ähnlich, mit dunklem Haar, der kleinen, viereckigen Brille und dem freundlichen Lächeln. Doch etwas war anders, fremdartig und nicht normal. Sie konnte noch nicht genau sagen, was es war, aber sie wusste, dass es die Beine des Wesens sein mussten.


Es sah sie an.


Sie erwiderte den Blick, um nicht auf seine Beine zu starren, hatte jedoch nicht lange Erfolg damit. Ihre Augen wichen immer wieder vom Gesicht des Wesens ab zu seinen Beinen. Diese waren im spitzen Winkel an die Rückenlehne des Sitzes vor dem Wesen gepresst, wie ihre eigenen zuvor, als sie geschlafen hatte. Doch die Füße der Gestalt hingen nicht hinab. Sie zeigten nach oben. Was auch immer dort saß und Anette anlächelte, hatte seine Knie nach hinten gedreht.


Nicht nur die Knie.


Anette musterte die Beine, blickte dem Wesen ins Gesicht und sah wieder zur Seite. Auch die Füße der Gestalt waren verdreht. Die Sohlen zeigten zur Decke, die Zehen jedoch nicht zu seinem Gesicht, sondern zum Sitz vor ihm. Es sah aus, als ob jemand hingegangen war, dem Wesen die Unterschenkel samt Knie abgenommen und verkehrt herum wieder eingepflanzt hatte.


Sie blinzelte einige Male verwirrt, dann sah sie wieder auf.


Das Wesen saß noch immer auf seinem Platz und lächelte sie freundlich an.


Anette kratzte sich an der Nase. War das eine anerkannte Behinderung oder bildete sie sich das alles nur ein? Schlief sie am Ende noch? Hatte man in Träumen solche tief gehenden Gedanken? Diese Spuren hatten sie tiefer beeindruckt, als sie gedacht hatte. So musste es sein. Sie träumte und ihr Gehirn versuchte, sich einen Reim auf diese vermaledeiten Fußspuren zu machen.


Das Wesen hob eine Hand und winkte ihr zu. Offensichtlich suchte es Kontakt. Zumindest nahm es ihr das Starren nicht ernst.


Sie schüttelte den Kopf.


Der Zug bremste heftig und kam unter einer Brücke zum Stehen.


Anette hatte nicht mit dem Stopp gerechnet. Sie fiel nach vorne und musste sich mit den Händen abfangen, um nicht mit dem Kopf gegen die Rückenlehne des Vordersitzes zu prallen. Sie richtete sich wieder auf und sah aus dem Fenster, um den Grund des plötzlichen Halts auszumachen. Sie konnte nichts sehen. Vielleicht hatte der Fahrer ein Signal zu spät gesehen. Sie waren in der Nähe des letzten Bahnhofs, die Gleise dort waren zu jeder Zeit von irgendeinem Zug belegt. Sicher hatte der Fahrer ihrer Bahn das Signal übersehen, vielleicht gehörte er auch zu der Gruppe Menschen, die der irrigen Ansicht waren, dass Bremsen etwas für Verlierer sei. Sie zuckte mit den Schultern. Ob sich das Wesen mit den seltsamen Beinen etwas getan hatte? Sie drehte sich herum.


Der Platz war leer, wie zu Beginn der Fahrt. Das Wesen war verschwunden, wenn es jemals da gewesen war.


Anette sah auf den Gang. Die Fußspuren hatte sie sich nicht eingebildet. Sie führten noch immer vom Sitz zur Tür oder rückwärts in die andere Richtung. Ein Wesen mit den Knien hinten konnte sie verursacht haben.


Oder Al Pacino, der sein Einsteigen verbergen wollte und sich nun mit einer Uzi auf der Zugtoilette vor dem Schaffner versteckte und darauf wartete, in der Endstation unbemerkt in der Masse aussteigen zu können. Damit niemand sein Schwarzfahren bemerkte.

04 Juni 2023

Geisterjagd

 Wir hatten zusammen einigen grenzwertigen Blödsinn angestellt, Nina und ich, aber ich glaube, dass die Sache mit der Domäne Blumenrod das mit Abstand spektakulärste Bubenstück war. Wir waren, wie alle Teenager, auf Abenteuer aus und was lag näher, als ein verfluchtes Haus zu untersuchen?
Nina hatte Geschichten über Geister in der Domäne aufgeschnappt, immer wieder erzählt und weiter ausgeschmückt. Das Gebäude war baufällig, mehrere Firmen hatten sich angeblich an der Renovierung versucht, und waren gescheitert. Angeblich weil jemand oder etwas die Bauarbeiten behinderte. Dabei war erst von Einbrechern die Rede, dann von Obdachlosen, Sekten, Geistern und schließlich Dämonen. Als die Geschichte nicht mehr zu steigern war, entschlossen wir uns, dem Ganzen selbst auf den Grund zu gehen.


Wir beobachteten das Gebäude über mehrere Tage von unserer Seite des maroden Bauzauns aus, sammelten alle möglichen Gerüchte, lasen die Warnschilder und den Hinweis auf Denkmalschutz am Zaun und versuchten herauszufinden, ob Arbeiter die Baustelle betraten oder nicht. Zu unserer Überraschung war tagsüber nie jemand zu sehen.


Schließlich kam die große Nacht. Wir hatten uns mit grünem Tee und Kaktusfeigensaft, der damals bei uns groß angesagt war, wach gehalten. Ninas Eltern waren nicht zu Hause, ihr kleiner Bruder schlief oder war mit seiner Playstation beschäftigt. Wir beiden Teenagermädchen waren allein und hatten in dieser Nacht alle Freiheiten. Und das nötige Wissen um die Domäne. Es gab außer dem Gerücht keine allgemein bekannten Spukgeschichten über den Ort. Offenbar lag die Baustelle einfach nur brach, was uns sehr entgegenkam. Denn auf einer leerstehenden Baustelle würde uns niemand sehen.


Wir packten uns jeder ein Trinkpäckchen mit Kaktusfeigensaft in die Taschen, schnappten uns unsere Jacken und eine Taschenlampe und legten den kurzen Weg von Ninas Haus zu der Domäne zurück. Dort angekommen quetschten uns durch eine Lücke im Bauzaun, die uns bei unseren vorherigen Besuchen nicht aufgefallen war. Irgendjemand musste den Zaun an der Stelle verrückt haben, um selbst auf die Baustelle zu gelangen.


Vom Bauzaun aus gelangten wir in eine Art Säulengang, von dem Nina erklärte, dass es sich um den ehemaligen Stalltrakt handelte. Vor uns lag im Restlicht der Straßenlaternen der breite Gang und dahinter der Hof der Domäne. Wir huschten durch die Bogengänge, immer darauf bedacht, im Schatten zu bleiben, und erreichten einen Graben, der die ehemaligen Stallungen vom Hof abtrennte. Auf der anderen Seite konnten wir deutlich das alte Pächterhaus erkennen. Nicht wegen des Mondlichts, sondern weil in einem der Fenster Lich brannte. Mit dem Licht hatten wir einen starken Hinweis, dass es ich bei den mysteriösen Gestalten zumindest nicht um Gespenster handelte.


Während mich die Erkenntnis, es mit Menschen zu tun zu haben, eher beruhigte, bewirkte sie bei Nina das Gegenteil. »Vielleicht sollten wir das Ganze sein lassen und heimgehen? Ich meine, wenn da wirklich ein Psychopath oder ein Satanist wohnen?«


Ich schnappte mir die Taschenlampe aus Ninas Jackentasche und deutete auf den Hof. In mir war die Detektivader wieder erwacht, die sich seit meiner Mickey-Maus-Zeit versteckt gehalten hatte. »Wenn mir jemand was will, kann ich ihm damit eins überziehen. Du bleibst hier und wartest, ich gehe nachsehen, wer da in dem Gebäude ist!«


Nina wich zögerlich in den Schatten einer Säule zurück. Wir kannten uns lange genug, dass sie meinen Sturkopf nicht infrage stellte.


Ich umklammerte die Taschenlampe, schlich aus dem Stalltrakt heraus, kletterte in den Graben hinab und auf der anderen Seite wieder raus und sah mich dann auf dem großen Innenhof um.
Es waren mehrere Meter bis zum Wohngebäude, schwer zu schätzen, wie weit genau. Allerdings sah ich im Mondlicht, dass eine Tür neben dem Fenster angebracht war. Ich konnte den beleuchteten Raum also problemlos erreichen.


Ich duckte mich und ging mit großen Schritten auf die Tür zu. Damals war ich überzeugt, dass alle großen Detektive und Einbrecher denselben Laufstil haben mussten, um nicht gesehen zu werden. Ich hatte vielleicht die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht und war gerade dabei, im Windschatten des Wohngebäudes nach Deckung zu suchen, als das Hoflicht aufflammte.


»Der Mörder!«, brüllte Nina aus dem Stallgebäude.


»Scht!«, machte ich, richtete mich aber auf und rannte in ihre Richtung. Als ich den Stall deutlich sehen konnte, hechtete ich darauf zu, landete jedoch am Hang des Grabens. Ich rollte mich über die Schulter ab, ein Manöver, von dem ich nicht wusste, dass ich es noch beherrschte, richtete mich auf und krabbelte in den Stall. Erst dort angekommen, wandte ich mich um und sah über den Hof, ob der psychopathische, untote Mörder mir gefolgt war. In dem Moment hatte ich allerdings mehr Angst vor der Schelte, weil wir in ein fremdes Gebäude eingedrungen waren als um mein Leben.
Das Licht im Fenster brannte noch immer, ansonsten war dort nichts zu sehen. Rechter Hand verschwand eine Katze im Schatten eines weiteren Gebäudeteils.


Ich schüttelte den Kopf. »Das war bloß eine streunende Katze. Was für ein Blödsinn. Dabei war ich fast an der Tür. Los, lass es uns nochmal versuchen!«


»Du spinnst doch total! Wir sollten gehen, bestimmt kommt der Typ da gleich raus und bringt uns um die Ecke!«


»Ich glaube nicht, dass das Mörder sind.« Ich zuckte mit den Schultern, gab aber Ninas Willen nach. Vielleicht war es eine bessere Idee, abzuwarten, bis niemand auf dem Gelände war. Wir kehrten zu ihr nach Hause zurück.


Einige Wochen später wollten wir einen neuen Versuch wagen, doch der Bauzaun war mittlerweile vollständig ersetzt und bot keine Lücken mehr, durch die man in das Gebäude hätte vordringen können.
Die Domäne befand sich damals schon im Besitz einer ehrenamtlichen, evangelischen Stiftung und wurde von Helfern in deren Freizeit renoviert. Vielleicht war es gut, das damals nicht zu wissen. So hatten wir wenigstens ein kleines Detektiv-Abenteuer erlebt, auch wenn es nicht erfolgreich war.

21 Mai 2023

Spuren im Zug

 Sie betrat wie jeden Morgen den Bahnhof. Es war kurz nach sechs Uhr und noch dunkel, obwohl man bereits eine Ahnung des nahenden Sommers haben konnte. Wie immer hatte sie den Weg vom Busbahnhof zu ihrem Zug im Laufschritt zurückgelegt. Es hatte wenig mit der Kälte oder der Dunkelheit zu tun. Auch der schlechte Ruf des Bahnhofsvorplatzes ließ sie kalt. Das Tempo ihrer Schritte war mehr eine Gewohnheit. Wie das Treppensteigen oder das Stehen an Haltestellen. Sie sagte sich immer, dass es diese Kleinigkeiten seien, die ihr erlaubten, niemals über ihre Essgewohnheiten nachdenken zu müssen und dennoch schlank zu bleiben. Der Zug war mit ihr gemeinsam eingetroffen, wie immer, wenn der Bus pünktlich an seinem Ziel angekommen war. Es war einer der großen, roten Doppelstockzüge, die die Deutsche Bahn auf ihren Nahverkehrsstrecken in der Nähe größerer Städte einsetzte.


Sie wartete am ersten Wagen hinter der Lok, bis sich die Türen öffneten. Sie warf einen Blick auf die anderen Reisenden, fast alles Pendler wie sie. Studenten, Schüler, Angestellte, Beamte. Doch an diesem Morgen war wenig los. Neben ihr wartete ein Rentnerehepaar, schwer ausgestattet mit Koffern und Taschen. Offenbar auf dem Weg in den Urlaub. Die Türen öffneten sich und einige Pendler stiegen aus. Sie ließ sie durch und stellte sich dabei so vor die Rentner, dass diese nicht in den Zug drängen konnten. Zum einen hasste sie die Hektik, die vor allem Urlaubsreisende ausstrahlten, die sich nicht einmal an die elementarste Regel halten konnten: Erst die Andern aussteigen lassen. Zum Anderen hatte sie eine fast schon zwanghafte Gewohnheit: Sie saß immer im unteren Abteil auf einem bestimmten Sitz. Immer. Wenn ihr das nicht möglich war, wurde sie nervös. Der Wagen war ihr dabei egal. Wichtig war die Lage des Sitzes. Alles war wie sonst auch an diesem Morgen. Bis ihr beim Einsteigen in den Zug etwas auffiel. Auf dem Boden klebten Fußabdrücke aus Joghurt. Oder weißer Farbe oder Milch. Sie vermied es, in die Abdrücke zu treten und betrachtete dabei kopfschüttelnd den Boden. Sie konnte Leute nicht ausstehen, die öffentliches Eigentum verdreckten. Insbesondere nicht mit offenbar klebrigen Materialien. Sie ging zur Treppe. Natürlich kamen die Fußspuren aus dem unteren Abteil. Sie seufzte. Hoffentlich kamen sie nicht von ihrem Platz. Doch nach einigen weiteren Schritten stutzte sie. Sie blickte zurück zur Tür, dann wieder vor sich. Die Fußspuren zeigten eindeutig in Richtung der Tür. Es waren Spuren von Herrenschuhen, etwa Größe 43 oder 44, nicht allzu viel größer jedenfalls als ihre Winterschuhe. Und die Zehen zeigten zur Tür. Doch je weiter sich die Abdrücke von der Tür entfernten, je weiter ins Abteil sie kamen, desto blasser wurden sie.


Die junge Frau überlegte einen Moment nach einer rationalen Erklärung. Vielleicht war die Person erst irgendwo im Abteil durch die Flüssigkeit gelaufen? Nein, unsinnig. Wäre dem so, müssten die Spuren auch zur Tür hin blasser werden. Der Träger der Schuhe hatte sich vielleicht die Masse übergeschüttet. Eine gute Möglichkeit. Aber dann sollten die Spuren gleichmäßiger sein. Sie lehnte gegen einen Sitz und musterte die Spuren, die hier im Abteil auch ein klares Profil aufwiesen. Ihr fiel eine letzte Möglichkeit ein: Der Träger musste rückwärts gelaufen sein. Zwar wusste sie nicht, warum jemand rückwärts durch ein Zugabteil laufen sollte, doch ihr erschien diese Lösung dennoch schlüssig. Sie hatte die Person zwar nicht aussteigen sehen, aber das konnte daran liegen, dass der Träger an einer früheren Haltestelle den Zug verlassen hatte. Sie beschloss, den Spuren zu folgen. Sie mussten ja irgendwohin führen. Tatsächlich lag ihr Ursprung im ersten Wagen in der linken Sitzreihe. Am drittletzten Platz, dem Platz schräg hinter ihrem. Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, hier jemanden vorzufinden, doch nichts war zu sehen. Nur die fast unsichtbaren Abdrücke der Schuhsohlen. Fast gegen ihren Willen, vor allem aber gegen ihre Logik, warf sie einen hastigen Blick in die Gepäckablage über dem Sitz, dann unter den Sitz. Natürlich war niemand da. Sie lachte über ihren eigenen, unsinnigen Gedanken und setzte sich auf ihren üblichen Platz. Sie nahm ihr Buch aus ihrem Rucksack und begann zu lesen. Nach einer Weile klappte sie das Buch zu, verstaute es im Rucksack und beschloss, zu schlafen. Vorher sah sie noch einmal auf den Sitz.


Er war noch immer leer.

18 Mai 2023

Top Ten Thursday: 10 Bücher mit einem roten Cover

 Hallo meine Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Neue Woche, neues Glück oder so ähnlich. Es ist wieder ein Donnerstag und damit Zeit für eine Top-Ten-Liste. Das Thema der Woche:

10 Bücher mit einem roten Cover

Die Aufgabe war deutlich schwerer, als ich erwartet hatte. Ich habe zwar etliche Bücher mit rotem Cover, aber das sind entweder Kochbücher, biologische Fachwälzer oder Bücher, bei denen der Schutzumschlag verloren gegangen ist. Passiert euch das eigentlich auch so häufig, dass der Schutzumschlag abhanden kommt? Ich hasse das. Ich hasse Schutzumschläge. Aber sei's drum.

Hier ist das erstaunlich befriedigende Bild in Rot (und dunkelbraun):

 

Dieses Mal verzichte ich in der Liste auf eine Zusammenfassung, da ich die Hälfte der Bücher noch nicht gelesen habe. Was ein wenig schade ist, weil ich eigentlich gerne ein paar Worte darüber verliere. Aber die "Damen", "Dracula" und "Wolkenatlas" hatten wir sowieso vor ein paar Wochen schon und die beiden letzten Bücher sind Kuriositäten-Sammlungen, keine Romane. Einzig über Urasawas "Monster" sollte man ein paar Worte verlieren:

Schaut euch den Anime dazu an. Alle. Jeder. Ohne Ausnahme. Ein Gehirnchirurg rettet einem kleinen Jungen das Leben, doch der entpuppt sich als Massenmörder. Und alle Spuren fallen auf den Arzt zurück. Dieser muss nun versuchen, den Jungen aufzuhalten, während er vom BKA verfolgt wird. Und ich meine das ernst. Schaut euch den Anime an. Lest den Manga. Wenigstens eins von beidem. Aber in dem Fall finde ich die Verfilmung besser. Egal.Zur Liste.

Peter S. Beagle: Es kamen drei Damen im Abendrot

Bram Stoker: Dracula

David Mitchell: Wolkenatlas (das unroteste Cover)

U. Pozwanski: Erebos

Gabriel García Márquez: Chronik eines angekündigten Todes

Davir Mitchell: Slade House

Imraan Coovadia: A Spy in Time

Naoki Urasawa: Monster

Maik Spörrle und Lutz Schuhmacher: "thänk ju vor träwelling"

Rainer Dresen und Anne Nina Schmid: Kein Alkohol für Fische unter 16


Kennt ihr eines der Bücher? Habt ihr es gelesen? Welche würdet ihr lesen wollen? Habt ihr Monster gesehen/ gelesen und wollt darüber diskutieren? Ich bin ganz Ohr! Antworten wie immer in den Kommentaren!


17 Mai 2023

Filmkritik: Saint Seiya - Die Krieger des Zodiak - Der Film

 Hallo meine Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben und Jebu an alle anderen, die der Titel hierherführt.

Nach langen Jahren widme ich mich endlich mal wieder einer Filmkritik. Nachdem ich bei meinen vorletzten beiden Kinobesuchen schon überlegt hatte, einige Worte über die jeweiligen filme zu verlieren, ist mir das diesesmal ein großes Bedürfnis :-)

Es handelt sich bei dem Film nämlich um die Live-Action zu Saint Seiya, ein Film, den ich seit Bekanntwerden der Dreharbeiten ein wenig mitverfolgt habe. Ich bin seit zwanzig Jahren Fan der Serie, die in Deutschland kaum bekannt ist, und erwarte eigentlich immer mit Schrecken, Spannung und einer gewissen Neugierde neue Erzählungen des Stoffes. Außerdem mag ich trashige Action- und Horrorfilme. Und dass das interantionale Kürzel für den Film KOTZ lautet, macht es nur noch besser.

Also war ich gestern mit einem Freund, der ebenfalls Fan der Serie ist, im Kino. Pünktlich zur Premiere und der vermutlich einzigen Vorstellung. Gegeben, dass mit uns beiden gestern genau drei Leute im Saal waren. Im zweitkleinsten Saal.

Also, hier sind sie, meine Eindrücke von

Saint Seiya - Die Krieger des Zodiak - Der Film

Die Titel sind nicht zwingend in der richtigen Reihenfolge. Damit fängt meine Verwirrung schon an. Zum Namen: Saint Seiya ist der Originaltitel des Manga und der Anime-Serie, der allerdings später für den amerikanischen Markt angepasst wurde zu "Knights of the Zodiak". Warum? Wahrscheinlich um religiöse Gefühle zu schonen. Der amerikanische Titel der Original-Serie ist allerdings der Titel, den heutige internationale Veröffentlichungen des Franchises (also dieser Film und die ehemals auf Netflix, jetzt auf Crunchyroll beheimatete Animationsserie) tragen. Ich hole deswegen hier aus, weil ich im Folgenden Saint Seiya als Titel verwenden werde. Es ist kürzer und ich bin den Origianltitel gewöhnt. Und die Abkürzung "KOTZ" ist schon fragwürdig. Vorab: So schlimm war der Film dann nicht.

 



 

Die Handlung

Der Film spielt irgendwie in der Gegenwart, aber auch nicht. In einer Zeit mit einer seltsamen Mischung aus Klapphandys, senkrecht startenden Flugzeugen, unerklärter Hochtechnologie und Cage-Fights. Oh, er spielt in Griechenland, jedenfalls zum Größten Teil. Ergibt Sinn, aber dazu mehr.

Saint Seiya handelt von dem Teenager Seiya, der mit der Gabe ausgestattet ist, sein Cosmo kontrollieren zu können. Er wird dazu auserwählt, Sienna Kido zu schützen, den Inkarnationskörper der Göttin Athena. Zum Zeitpunkt des Films ist er einer von drei noch lebenden Saints (= Krieger der Athena) und der einzige, den Siennas Adoptivvater Alman Kido mit der Aufgabe betrauen kann.

Alman findet Seiya bei einem Straßenkampf irgendwo in einer Großstadt, wo er ungewollt sein Leben mit einem Cosmoausbruch gegen den Betreiber des Kampfringes, Cassios, verteidigt hat. Dadurch wurde Almans Ex-Frau Guraad auf den Jungen aufmerksam. Sie selbst sucht schon seit Jahren nach dem Pegasus-Saint, um seine Energie zur Erhaltung ihres Lebens abzuzapfen.

Alman rettet Seiya mithilfe seines Bodygaurds Milock und bringt ihn auf sein Anwesen nach Griechenland, wo Seiya Sienna kennenlernt. Die beiden haben kurzzeitig einige Teenagerkabbeleien, ehe Seiya den Ernst der Situation zu akzeptieren scheint. Sienna kann das Cosmo Athenas nur begrenzt unterdrücken. Da ihre Adoptivmutter auch hinter ihr her ist, hat Alman sie quasi in der Villa eingesperrt. Die Villa ist zudem mit einem "Cosmo Detection System" ausgestattet, das automatisch alle Signale des Cosmo nach außen abblockt.

Seiya akzeptiert recht motivationslos sein Schicksal, Siennas Bodyguard zu werden, und lässt sich von Milock auf eine andere Insel zum Training bringen. Dort trifft er auf den Silberkrieger (Silver Saint) Marin, die ihn unterrichtet. Die Trainingssequenz umfasst dabei die GESAMTE erste Hälfte des zweiten Akts, ohne, dass es zu einem erkennbaren Fortschritt kommt. Seiya hat, als er zum ersten Mal von der Pegasusrüstung akzeptiert wird, eine Erinnerung an seine Zeit mit seiner Schwester. Diese wurde von Guraad entführt und Seiya sieht dabei auch Alman. Er fühlt sich von diesem ausgenutzt und kehrt - mithilfe Milocks - zur Villa zurück, um ihn zur Rede zu stellen.

Doch soweit kommt es nicht. Sienna fängt ihn noch am Hangar ab und fährt mit ihm auf einem Motorrad an den nächsten Hafen. Dort erklärt sie, dass sie ihrer Mutter als Säugling versehentlich die Arme zurstört hat, da sie ihr Cosmo nicht kontrollieren kann. Ihr Vater konnte die Mutter zwar mithilfe der goldenen Rüstung retten, doch sie ist nun auf das Cosmo anderer Menschen angewiesen, weshalb sie nach entsprechenden Kindern sucht, die sie dann tötet und ihr Blut injeziert. Oder so. Außerdem hat sie einen Hass auf Athena entwickelt, glaubt, die Göttin sei nur gekommen, um die Menschheit zu vernichten und will deshalb ihre Tochter töten. Ich glaube, das ist die Stelle, wo ich kurz erwähnen darf, dass die Geschichte wenig Sinn ergibt. Vermutlich noch weniger für Menschen, die das Original nicht kennen. Was in der englischsprachigen Welt und Deutschland die Mehrheit des Publikums sein dürfte.

Während dieser Aussprache greift Guraad das Anwesen ihres Ex-Mannes an. Die beiden haben einen kurzen moralischen Disput darüber, ob Guraad Sienna töten soll oder nicht (der recht unemotional geführt wird), ehe Alman das Anwesen sprengen will. Guraads Schergen, namentlich Cassios, der mittlerweile ein Cyborg geworden ist, halten ihn auf.

Seiya und Sienna kehren zum Anwesen zurück, was dazu führt, dass sich niemand mehr für Alman interessiert. Guraad überlässt es Cassios, Sienna zu entführen und Seiya zu töten. Dazu kommt es jedoch nicht. Alman schafft es nämlich, die Bombe zu zünden. Um seine Tochter zu retten. Die sich auf dem Anwesen befindet. Und um seine Ex-Frau auzuhalten. Die sich in ihr Raumschiff-Flugzeig-Dingsi retten kann. Seiya, Cassios, Sienna und zwei oder drei weitere Schergen überleben die Explosion. Die Schergen bringen Sienna in Guraads überaus unaufälliges Hochhaus-Labor. Seiya folgt ihnen zusammen mit Milock.

Im Labor schließt Guraad Sienna an eine nicht näher erklärte Maschine an, die das Mädchen - oder zumindest die Göttin in ihr - töten soll. Ihre rechte Hand Nero überwacht den Vorgang. Allerdings bricht Guraad zusammen und will ihre Tochter dann doch retten, als sie sie schreien hört. Nero hält sie davon ab. Er überwindet sie trotz ihrer Cosmo-absorbierenden Handschuhe, und reißt ihr das Tag der Goldrüstung aus dem Körper. Dies führt dazu, dass Guraad langsam an den Verletzungen ihrer Arme stirbt. Glaube ich.

Dann taucht Seiya im Labor auf und liefert sich einen Kampf auf dem Dach mit Nero, der an dieser Stelle als der Phönix-Saint vorgestellt wird. Während des Kampfes schafft es Guraad, die Maschine abzustellen. Allerdings ist Athena jetzt wütend. Ihr Cosmo loderd auf und droht, die ganze Welt zu vernichten. Nero will sie aufhalten und scheitert. Seiya wil sie aufhalten, appelliert an Sienna und schafft es, sie zu beruhigen. Sienna kann daraufhin Athenas Cosmo kontrollieren, heilt ihre Mutter und kehrt mit Seiya an den Ort von dessen Training zurück. Während die beiden in den Sonnenuntergang schauen, plant sie, das Heiligtum wieder aufzubauen und andere Saints zu rekrutieren - um die Götter aufzuhalten, welche die Welt bedrohen. Denn Athenas Geburt in einem menschlichen Körper ist das erste Zeichen eines drohenden göttlichen Krieges.

Verwirrt?

Ja. Ich auch. Und ich kenne das Original und jede Adaption. Ich erkenne die Motive, das Thema, sogar die Bildkomposition wieder. Aber die Geschichte ergibt keinen Sinn. Oder in anderen Worten: Das Drehbuch ist Mist. Die technische Umsetzung ist, entgegen dem, was die Trailer zeigen, eigentlich ganz ok. Die Kulissen sind hübsch und passend gewählt, Spezialeffekte sind tauglich eingesetzt. Die Dialoge waren stellenweise richtig gut und die Hintergrundmusik war top. Der Remix von Pegasus Fantasy ist eine der besten Instrumentalversionen des Liedes. Was eine Leistung ist, denn Saint Seiya hat durchweg einen guten Score.

Die schauspierische Leistung war dagegen mäßig, Neros Besetzung fand ich persönlich unpassend. Die Kampfszenen waren durchweg hölzern und häufig deplatziert. Und Kampfszenen bei einem Superhelden-Actionfilm störend zu machen, ist schon eine Leistung. Nick Stahl, der Schauspieler von Cassios, sah durch weite Teile des Films unzufrieden mit seiner Rolle aus - die noch eine der besseren in dem Chaos war.

Nicht-Kano AKA Cassios
Die Charaktere waren insgesamt meh. Seiyas, Siennas und besonders Guraads Charakterwandel war unglaubwürdig und sehr drehbuch-haft. Wobei es bei Guraad nicht nur der Wandel war, schon der Grundcharakter wirkte überzogen und fabriziert. Hier hätte das Universum der Serie besseren Stoff geboten. Alman Kido (Mitsumasa im Original) und Milock (Tatsumi im Original, eigentlich Butler) wurden im Charakter stark gegenüber dem Original verändert - allerdings beide zum Guten. Milock ist die mit Abstand beste Figur des Films.

Cassios, im Original auch ein eher schwach ausgeprägter Charakter, wurde ebenfalls stark angepasst. Er folgt der Darstellung von ihm in der Animationsserie, allerdings wirkt er im Film besser. Er erinnert mich ein wenig an Kano aus Mortal Kombat, nur in jugendfrei. Definitv auch eine der besseren Figuren, auch wenn er überhaupt nichts mit dem Original gemeinsam hat. Außer seiner Abneigung gegen Seiya, die im Film allerdings schlecht erklärt ist.

Nero (Ikki im Original) frustriert mich. Ich habe ihn - der im Original einen der ausgeprägsten Charaktere aufweist - nicht am Charakter erkennen können. Für die erste Hälfte des Films dachte ich, er wäre eine andere Figur - Jabu. Ikki im Original ist ein dickköpfiger Einzelgänger mit einem starken Hang zur Depression. Im ersten Arc der Serie (auf dem der Film IRGENDWIE beruht) ist er recht aggressiv und zeigt wenig Voraussicht oder Kontrolle. Vor allem ist er unkontrollierbar und wird vom eigentlichen Schurken als eine Gefahr betrachtet. Diesen Zug zeigt er im Film am Ende für knapp zwei Minuten. Davon abgesehen ist er in dem Drehbuch auch völlig überflüssig und eigentlich nur für den Kampf gegen Seiya überhaupt vorhanden (alle anderen Bronzesaints wurden rausgenommen!).

Der Kampf Seiya gegen Ikki am Ende und auch der von Seiya und Cassios am Anfang sollen High Stakes sein und eine tiefe Rivalität oder sogar Feindschaft ausdrücken. Gerade der Kampf gegen Ikki wirkt allerdings bestenfalls wie freundliches Sparring.

Vergleich mit dem Original

Vorab: Ich wusste, dass mich eine Original Story erwartet. Die Abweichungen waren also nicht überraschend und schlimmstenfalls unverständlich. Außer der Sache mit Ikki. Dafür sollten sie sich bei Kurumada entschuldigen. Öffentlich.

Die Charakterentwicklung der beiden Hauptfiguren ist im Film sehr übers Knie gebrochen, was aber der Formatlänge zuzuschreiben ist. Beide entwickeln sich in der Serie über einen vollen Arc. Guraad dagegen ist nicht entschuldbar. Sie ist ein Original Charakter des Films, sie hätte man besser zeichnen MÜSSEN. Ok, Athena auch. Die Fixierung des Films auf eine falsche Darstellung der Göttin hat mir auch nicht gefallen.

Athena ist Göttin der Weisheit, Strategie und Waffen. Im Film wird sie durchgängig mit dem Charakter von Ares dargestellt, dem Gott des Krieges und Gemetzels. Ja, die Aufgabengebiete der beiden überschneiden sich. Nein, Athena ist nicht das jähzornige Wesen, das die Menschheit vernichten will. Nicht in der Mythologie und ganz besonders nicht im Lore der Serie. Athena ist die Beschützerin der Menschen. Was mich zu dem Punkt bringt: Athena kommt nicht auf die Welt und deswegen entsteht ein göttlicher Krieg (was der Film impliziert), sie kommt auf die Welt, weil der Krieg im Entstehen begriffen ist. Ihre Aufgabe ist es, das Schlimmste abzuwenden. Aber das zu diskutieren würde den Artikel sprengen. Vielleicht mache ich irgendwann mal einen über die Serie ...

Die Geschichte im Film besteht aus logischen Löchern, Bruch mit dem Originalmaterial und eienr Reihe Versatzstücke aus verschiedenen Adaptionen.

  • Nicht-Ikki AKA Nero
    Guraad und die Cyborgs stammen aus der Netflix-Staffel der Animationsserie. Guraad ist in der Serie allerdings männlich und Almans Geschäftspartner.
  • Milock stammt, in der Form wie er im Film auftritt, aus dem Animationsfilm Battle of the Sanctuary
  • Die Szene mit Sienna und Seiya am Hafen existiert im Original genauso, wie dass Seiya den Hafen auf einem Motorrad erreicht. Allerdings redet er nicht mit Sienna (Saori) über deren Kindheit, sondern mit Miho aus dem Weisenhaus über seine Schwester.
  • Nero, der die Goldrüstung an sich bringt, ist aus dem Galaxy War Arc der Serie übernommen, wird aber im Film nicht zu Ende gebracht und kommt sehr überraschend.
  • Teile der Trainingssequenz stammen aus dem Original, wurden aber abgeschwächt. Warum auch immer.
  • Die Idee mit dem Cage Fight stammt - glaube ich - auch aus der Netflix-Serie, die anschließemde Verfolgungsjagd aus BotS.
  • Almans und Guraads Geschichte sind original für den Film gemacht. Und der schlechtere Story-Part.
  • Da sie Shaina, Cassios' Ausbilderin, aus dem Film gestrichen haben,  fällt es relativ wenig auf, aber: Cassios trägt ein Tattoo des Sternbilds Schlangenträger, das Shainas Rüstung entspricht. Ein schickes Detail, wenn man bedenkt, wie sehr Cassios im Original an Shaina hängt.

Fazit

Der Film war unterhaltsam. Allerdings glaube ich, dass dies daran liegt, das


s ich das Original kenne. Ohne die Hintergründe dürfte er verwirrend sein, denn das Drehbuch folgt keiner eignen Logik. Die Geschichte besteht aus Puzzelstücken unterschiedlicher Adaptionen, die alle nicht recht zusammenpassen. Es wird kein Handlungsstrang logisch zuende erzählt, viele tauchen mittendrin auf und gehen wieder verloren. Die Charaktere sind teilweise unglaubwürdig, ständig schimmert "Steht so im Drehbuch" durch. Immersion kommt selten auf.

Ich mag Milock und Cassios in dem Film ganz gerne, da hört es allerdings auch auf. Technisch ist er ganz gut umgesetzt, aber das lenkt nicht vom unnötig schwachen Drehbuch ab. Hier hätte man mehr mit dem vorliegenden Material arbeiten können. Dass es geht, beweist Battle of the Sanctuary, der nicht viel länger, aber deutlich besser ist. Generell war die Entscheidung, mit einer Neuadaption des Black-Saint-Arcs anzufangen, recht fragwürdig (wie auch schon bei der Netflix-Serie). Der Arc ist der schwächste Part der Serie und streng genommen überflüssig. Insbesondere in der Form, wie er in diesem Film erzählt wird. Im Original dient er der Etablierung von Ikkis Charakter, der in diesem Film selten vorkommt und zudem NICHT IKKI IST. ARGH. JABU IST NICHT IKKI!

Milock. Warum auch immer mit Y.

Entschuldigung. Hatte ich erwähnt, dass mich die Darstellung von Nero frustriert? Der Film lässt die Möglichkeit eines Twelve-Temple-Films offen, zu dem es aber vermutlich nicht kommen wird. Zum Glück, wie ich sagen möchte.

Ich verstehe die Entscheidung, für den Film die Zahl der Hauptfiguren auf das absolute Minimum zu kürzen (es fehlen Shiryu, Hyoga und Shun, die eigentlich als Team mit Seiya kämpfen). Allerdings fehlen so die Interaktionen, die die Figuren im Original ausmachen. Gerade Shiryu ist als Gegenpol zu Seiya eigentlich für dessen Entwicklung notwendig. Was man im Film spürt. Seiya fehlt jede Erkenntnis. Um das auszugleichen wurde sein Charakter etwas mehr an Shiryu angeglichen, was ihn trockener und ruhiger als das Original macht. Hätte funktionieren können, wäre das Drehbuch besser.

Alles in Allem war der Film etwas besser, als ich erwartet hatte, aber nicht gut. Nicht annähernd. Er war okay, unterhaltsam, aber nicht gut. Und würde ich die Serie nicht kennen, wäre mein Urteil wahrscheinlich schlechter - weil ich ihn nicht verstehen würde. Ganz ehrlich, wer hat diesem Drehbuch sein OKAY gegeben? TOEI sollte darüber nachdenken, die Rechte an der Serie aufzugeben. Aber das sage ich seit der missratenen Adaption von Saintia Sho.

Was ich gerne hätte, wäre ein Reboot des Originals. Unter Federführung von MAPPA oder Madhouse oder M2. Aber TOEI wird die Rechte nicht aufgeben. Und so lange wird die Serie weiter mit mittelmäßigen Interationen auskommen müssen. Sollte jemand sich nach dem Film ernsthaft mit Saint Seiya beschäftigen wollen:

Besorgt euch den Anime (aber möglichst nicht in der US-Synchro), den Manga, eines der Playstation-Spiele (Soldier's Soul ist klasse. PC oder PS3) oder schaut euch die Animationsserie ab Staffel 2 an. Wichtig: Ab Staffel 2. Der Anfang ist noch schlechter als der Film...

In diesem Sinne, bis zum nächsten Mal und frohes Schreiben
SaSa

14 Mai 2023

Herbst (Flashfiction)

 Sie war mit den beiden Hunden im Wald unterwegs. Es war später Oktober, die Bäume um sie herum verloren nach und nach ihr gelbes und rotes Laub, sodass der Weg knöchelhoch bedeckt war. Die Hunde tollten ausgelassen im knisternden Laub, sie lief gedankenverloren durch den Wald. Der Weg schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch, ein Specht klopfte nach den letzten Insekten. Irgendwo hörte sie ein großes Tier im Dickicht, alles war friedlich. 


An einer Wegkreuzung begegnete ihr ein älterer Mann. Er hatte einen großen Jagdhund bei sich. Angespannt pfiff sie nach ihren Hunden. Beide kamen ihr schwanzwedelnd entgegen, sie leinte sie an und sah auf den Mann. "Rüde?"


"Kastriert", antwortete dieser lächelnd.


Sie ließ ihre Hunde wieder frei laufen. Die drei Tiere beschnupperten sich gegenseitig und tollten dann gemeinsam durch das Laub.


"Bin ich froh, er kann sonst nicht so toll mit Jagdhunden."


Der Mann nickte nur. Sie gingen schweigend gemeinsam weiter den Waldweg entlang. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte, obwohl sie jeden Tag im Wald war. An einen Mann mit Jagdhund hätte sie sich sicher erinnert.


"Sind Sie Jäger?", fragte sie schließlich.


Er schüttelte den Kopf: "Nein, ich wohne hier."


Sie schwieg. Der Weg stieg allmählich an, wand sich dann einen hohen Hügel hinauf. Sie versanken nun fast knietief im Laub. Wind zog auf.


"Es wird gleich regnen", warf sie ein und zog sich die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf. Der Mann deutete den Hügel hinab in den Wald hinein. "Ich wohne dahinten. Du kannst dich unterstellen, das wird ein schwerer Sturm werden."


Er sollte recht behalten, innerhalb von Minuten nahm der Wind an Stärke zu. Laub peitschte ihnen ins Gesicht, die Hunde hatten ihr Spiel eingestellt und trotteten nun mit hängenden Köpfen hinter den beiden Menschen her. Sie hatten den Gipfel des Hügels hinter sich gelassen und gingen nun den Weg hinab. Sie meinte, zwischen den Bäumen ein Gebäude zu erkennen. Schwer zu sehen, versteckt. Es donnerte. Als sie den Hügel zur Hälfte unten waren, begann es, zu regnen. Erst leicht, sacht, dann immer stärker, schließlich konnten sie kaum noch durch den Regen sehen. Er nahm ihren Arm. "Wir müssen hier rüber."


Sie senkte den Kopf und zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. "Und die Hunde?"


"Können auch rein."


Sie sah sich um, der Jagdhund war verschwunden. Ihre beiden Hunde folgten ihnen weiterhin. Der Mann führte sie einige Meter in den Wald zu einer Tür, die in einen Felsen gebaut schien.
"Sie leben in einem alten Bunker?"


Skeptisch beäugte sie die Tür. Der Mann nickte und öffnete, trat ein. Sie und ihre Hunde folgten. Das Innere des Bunkers war überraschend gemütlich. Er schien es ausgebaut, umgebaut zu haben. Der Gang erinnerte sie an den Flur im Haus ihrer Großeltern, schmal, dunkel, aber auf eine eigenartige Weise gemütlich. Er beherbergte einen langen, gelben Läufer, eine Garderobe und mehrere Türen in angrenzende Räume.


"Ich habe ihn nicht vollständig erschlossen, nur soweit ich brauchte. Die Hunde kannst du im Flur lassen."


Sie wollte nach dem Jagdhund fragen, doch die Frage erschien ihr mit einem Mal absurd. Der Mann ging den Flur entlang und trat durch eine Tür in eine Wohnküche. Auch diese sah aus wie die ihrer Großeltern. Eine alte Küchenzeile, ein billiger Elektroherd, ein altes Radio, eine Eckbank und ein alter Tisch. Der Raum war spärlich mit gelblichem Licht beleuchtet. Er deutete auf die Bank:
"Setz dich!"


Während sie sich setzte, wandte er sich den Küchenschränken zu.

11 Mai 2023

Top Ten Thursday: Zehn beste erste Sätze

 

Hallo meine Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

 Es ist wieder ein Donnerstag und damit Zeit für eine Top-Ten-Liste. Das Thema der Woche:

10 Bücher mit einem besonders gelungenen ersten Satz.

Zuerst wollte ich mich gar nicht an die Aufgabe setzen. Warum? Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich erste Sätze gut merken, oder ihnen eine größere Bedeutung beimessen. Ich mag letzte Sätze deutlich lieber. Erste Sätze lese ich, dann vergesse ich sie im allgemeinen Zusammenhang. Letzte Sätze bleiben hängen. Getreu dem Motto: Ich will nicht die erste Person sein, die du liebst. Ich will die letzte sein.

Aber da die Analyse erster Sätze eine großartige Schreibübung ist, habe ich doch einen Tag damit verbracht, meine Bücher - und meine Wunschliste - durchzusehen und erstaunlicherweise deutlich mehr als zehn gute erste Sätze gefunden. Allein bei den Klassikern in meinem Regal sind so viele schöne Anfänge dabei. Also habe ich - mit einer oder zwei Ausnahmen - das Los entscheiden lassen. Nein, nicht das Los. Ich habe versucht, eher unbekannte Bücher auszuwählen. Warum? Weil es keine Kunst ist, "Stolz und Vorurteil", "Moby Dick" oder "1984" zu nennen. Trotzdem sind große Namen reingerutscht, weil sie einfach gut sind. Also, hier ist meine Auswahl an guten ersten Sätzen. Und wer weiß, vielleicht liefere ich noch eine Top-Wievielauchimmer-Nach. Irgendwann, im Rahmen meiner sehr unregelmäßgen Schreibratgeber.



Und damit ihr alle mitreden könnt, werde ich dieses Mal natürlich zitieren. Worum es in dem Buch geht, ist in dem Fall ja egal ;-)

Imraan Coovadia: A Spy in Time

"I never set out to be anybody's prophet."

Zu deutsch: Ich wollte niemals jemandes Prophet sein. Ich habe länger daran überlegt, ob ich das Buch aufnehmen soll oder nicht - immerhin taucht es bei den roten Covern schon auf und wird vermutlich auch in die S-Titel rutschen. Aber der erste Satz ist zu gut, um ihn zu unterschlagen. In dem Fall war er sogar der Kaufgrund - etwas, das bei mir nur sehr selten passiert.


Oliver Hilmes: Liszt - Biographie eines Superstars

"Der 22. Oktober 1811 war ein ganz normaler Dienstag."
In dem Fall dieser wunderbar spannend und witzig geschriebenen Biografie eines viel zu wenig beachteten Komponisten - des ersten modernen Superstars - hätte ich auch den ersten Satz des Vorworts nehmen können.

"Liest man das Wort Superstar, denkt man vielleicht an die Beatles, die Stones oder an moderne Popstars wie Michael Jackson oder Madonna."

 Falls ihr normalerweise keine Biografien lest oder Liszt nicht kennt (er wird im Musikunterricht eher selten genannt), werft einen Blick in dieses Buch. Es ist eine spannende und schillernde Lebensgeschichte, die sich stellenweise wie die Zusammenfassung einer guten Soap liest. Hilmes schreibt hervorragend und Liszts Leben lässt die Rolling Stones blass aussehen.

 

Gabriel García Márquez: Chronik eines angekündigten Todes

"An dem Tag, an dem sie Santiago Nasar töten wollten, stand er um fünf Uhr dreißig morgens auf, um den Dampfer zu erwarten, mit dem der Bischof kam."

Ich gebe zu, ich habe ein Faible für erste Sätze, die mir Zeit und Datum nennen. Vielleicht, weil ich ein recht analytischer Mensch bin. Vielleicht, weil ich mit Forenrollenspielen aufgewachsen bin, die häufig in dieser Art anfangen. Aber die Schönheit in der verborgenen Tragik des Satzes ist göttlich. Márquez taucht nicht umsonst immer wieder in Listen der besten ersten Sätze auf, glaube ich.


Leo Tolstoi: Anna Karenina

"Die äußeren Formen, in denen das sogenannte glückliche Familienleben sich abzuspielen pflegt, sind überall die gleichen, das unglückliche dagegen verläuft in jedem einzelnen Falle auf eine besondere und einmalige Art."

Da ist er, einer der klassischen ersten Sätze, die ich vermeiden wollte. Aber ich kann mich nicht gegen einen guten ersten Satz wehren, oder? Der Anfang von Anna Karenina ist wie eine Zusammenfassung der Geschichte - ähnlich zu dem von "Stolz und Vorurteil" (ein Buch, dass ich nicht ausstehen kann. Steinigt mich, aber Jane Austen und ich passen kein Stück zusammen).


Jean Webster: Daddy Langbein

"Der erste Mittwoch jeden Monats war ein ganz fürchterlicher Tag - ein Tag, der mit Schrecken erwartet, mit Mut überstanden und mit Eile vergessen wurde."

Noch ein erster Satz, der mich mit dem Wochentag begrüßt, an dem der folgende Abschnitt stattfindet. Und noch ein erster Satz, der hervorragend die Stimmung transportiert.


J.D. Salinger: Der Fänger im Roggen

"Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Ersters wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und und was meine Eltern gemacht hatten und so, bevor sie mich kriegten, und den ganzen David-Copperfield-Mist, aber eigentlich ist mir gar nicht danach, wenn ihr's genau wissen wollt."

Wahrscheinlich der längste erste Satz, der es je auf eine Liste guter erster Sätze schafft. Noch ein Klassiker. Aber mal ehrlich, was würde Holden besser charakterisieren als das? Wem der Charakter hier schon zu viel ist, der wird keinen Spaß mit dem Buch haben.


Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

"Man möchte meinen, er hätte seine Entscheidung etwas früher treffen und seine Umgebung netterweise auch davon in Kenntnis setzen können."

Noch ein erster Satz, der mich von dem Buch überzeugt hat. Und ich glaube noch ein Klassiker auf der Liste. Vielleicht sind doch mehr davon durchgerutscht, als ich dachte.


Wolfgang Hohlbein: Das Netz

"Laura starrte wütend auf ihre antike Swatchuhr aus dem Jahre 1987."

Ich erinnere mich, dass ich den Satz damals großartig fand. Ich war Teeanger, es war um das Jahr 2000 und ich hatte eine Swatch. Als ich ihn für die Challenge wieder gelesen habe, fand ich ihn genauso großartig. Allerdings trifft er jetzt auch das Zeitgefühl besser. Immerhin leben wir jetzt näher an der Handlung des Buches (2033) als an Lauras Uhr. Übrigens hätte das Buch es auch auf die Re-Read-Liste schaffen können. Das ist nämlich der einzige Grund, warum ich es noch habe.


Lois Lowry: Hüter der Erinnerung

"Der Dezember stand vor der Tür und Jonas bekam es allmählich mit der Angst zu tun."

Das ist die zweite Schullektüre, die mich so fasziniert hat, dass ich mir das Buch kaufen musste. Und die zweite, die mit einem ersten Satz auf dieser Liste vertreten ist. Kann jemand die andere erraten? Das Buch habe ich anschließend sogar meiner Mutter aufgezwungen und jedem anderen Menschen, der mir begegnet ist und eine Buchempfehlung haben wollte. Und zusammen mit "Das Netz" und dem Adventure "Beneath a Steel Sky" ist "Hüter der Erinnerung" auch eine der Inspirationen hinter Zirkulum und Neshka.

Übrigens erinnert mich das Buch immer an ein Kinderbuch, das ich in der Grundschule gelesen habe. "Der Junge mit den zwei Augen". Kennt das irgendjemand?


Gonzalo Giner: Der Reiter der Stille

"Yago kam verdreht auf die Welt."

Ein Buch von meinem Lesestapel. Ich habe es vor einiger Zeit von einer Freundin zum Geburtstag bekommen und seitdem wartet es darauf, endlich gelesen zu werden. Immerhin bin ich jetzt einen Satz weiter, vielleicht ist das ja der nötige Anfang?

Und weil ich so viele schöne erste Sätze nicht erwähnen konnte, kommen hier noch ein Bonus. Mein liebster erster Satz:

Peter S. Beagle: Das letzte Einhorn

"Das Einhorn lebte in einem Fliederwald, und es lebte ganz allein."

 Und damit zu euch! Kennt ihr eines der Bücher? Habt ihr es gelesen? Welche würdet ihr lesen wollen? Antworten wie immer in den Kommentaren!