19 Dezember 2023

Dezember-Zweifel und Ausblick auf das neue Jahr 2024


 Hallo meine Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Das wäre Ihr Cover gewesen
(by J. Zalfen)


Wie geht es bei euch voran? Vielleicht habt ihr mitbekommen, 
dass ich eine Geschichte zurückgezogen habe. Das hat einen
guten Grund. Gentlemen's Game - oder wie auch immer die
Geschichte mit den zig Arbeitstiteln am Ende heißen wird -
bekommt einen Verlag. Ja, richtig, einen Verlag.
Also, wenn jetzt keine großen No-Gos mehr genannt werden.
Meine Entscheidung wird davon abhängen, ob ich mit
Zirkulum weiter machen kann, wie ich mir das vorstelle,
oder nicht.

Und obwohl ich mich freue, gibt es da Zweifel. Eigentlich
habe ich nur die Idee zu Gentlemen's Game verkauft.
Das Buch wird in großen Teilen noch einmal umgeschrieben.
Die Figuren, Orte und das Verbrechen bleiben erhalten, aber
nach einer längeren Rücksprache ist mir klar geworden,
dass ein paar andere Dinge so nicht funktionieren.
Jedenfalls nicht mit dieser Geschichte.
Außerdem will der Verlag keine 92.000 Wörter, sondern ein
bisschen weniger *lacht*

Das ist alles kein Problem, aber die Idee einer Deadline - also eine richtige Deadline,
mit Konsequenzen, falls ich sie nicht einhalte, macht mich schon nervös. Nicht, dass der
Abgabetermin in nächster Zeit wäre. Ende 2024. Und das Buch muss nicht voll lektoriert sein
bis dahin - was nicht heißt, dass ich einen rohen Entwurf abgeben kann, sollte oder werde.
Der Rest des Monats wird damit erstmal für eine neue Version von Gentlemen's Game
draufgehen. Die Fünfte, um genau zu sein. 

Das liegt wohl noch im Rahmen, Fitzek behauptet,
im Schnitt sieben Versionen bis zum veröffentlichten Werk zu schreiben,
wenn ich das richtig im Kopf habe.

Und das Buch hat eine lange Reise hinter sich, von den ersten Anfängen
Zweitausend-ich-glaube-und-vierzehn bis heute. Irgendwo habe ich sogar ein Büchlein mit der
gedruckten Fassung der ersten Version und lasst euch sagen, die ist schlecht.
Wirklich, wirklich schlecht. Aber sie ist fertig und ohne sie wäre ich jetzt nicht hier.
Vielleicht erzähle ich irgendwann im Laufe des nächsten Jahres mal den ganzen Werdegang,
wenn das Ende absehbar ist. Vielleicht auch nicht, mal sehen.

Wie sieht es bei euch aus? Wisst ihr schon, was 2024 bringen will oder soll?

24 November 2023

Das November-Chaos oder NaNoWriMo Ate My Soul!

 Hallo meine lieben Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört. Zum Teil, weil ich mich etwas mehr auf Wattpad als auf Blogger herumgetrieben habe, zum anderen weil November ist. Ich habe eine Weile gezögert, diesen Post heute schon zu verfassen, weil ich am Montag außerdem ein Gespräch mit einem Verlag habe, der Interesse an Gentlemen's Game geäußert hat.

Ein richtiger Verlag! Und sie sind auf mich zugekommen. Das ganze Ist schon einen Monat her und mittlerweile fühlt es sich gar nicht mehr so surreal an, aber aufgeregt bin ich trotzdem. Ich hoffe, dass die Bauarbeiten an der Hauptstraße mir da keinen Strich durch die Rechnung ziehen und das Internet kappen. Das wäre ziemlich bescheiden.


 

Aber egal, über den Deal oder Nicht-Deal und die Zukunft von Gentlemen's Game rede ich ein andermal. Heute geht es um einen ersten Rückblick auf meinen NaNo. Sechs Schreibtage habe ich noch, aber ich bin mit rund 42.000 Wörtern in jeweils zwei Projekten gerade deutlich auf der Überholspur. Und ja, ihr lest richtig. ZWEI Projekte. Deswegen auch das ganze Chaos.

Wie kam es dazu?

Geplant hatte ich eine neue Fassung, quasi ein zweiter erster Entwurf, für die Geschichte von Hendrik. Erinenrt ihr euch nch an Euro-Jin? Genau diesen Hendrik. Ich hatte erst überlegt, die Geschichte etwas zu überarbeiten, in einen besseren Stil zu heben und ein paar kleine Lücken auszubessern (ein Vorhaben, dass ich auch für Totes Blut und Zirkulum im Kopf habe). Stephen King hat das getan, Musiker und Filmstudios machen es andauernd, also warum nicht auch mit meinen Erstlingswerken so verfahren? Jedenfalls ist mir beim Durchlesen aufgefallen, dass ich die Geschichte nicht runder bekomme, als sie ist (und sie ist leider ziemlich eckig 😅), also habe ich eine andere Story geplant. Mein eigentliches November-Projekt.

Soweit, so gut. Am Morgen des ersten November bin ich wach geworden, und eine zweite Idee ist aufgetaucht. Irgendwann im Laufe des Jahres wollte ich "irgendwas mit Werwölfen" machen, die Idee ist aber nie in einen planungsfähigen Zustand gekommen. Dann sind diese Werwölfe Anfang des Monats aufgetaucht und wollten auf's Papier. Ich habe ihnen nachgegeben - ich starte häufiger mit zwei Porjekten und lasse eins in der ersten Woche fallen. Sie sind noch da. Hendrik ist auch noch da.

Zwei Projekte. Eines mit Planung und eines in wildem, ungeplantem Chaos. Wollt ihr wissen, wie wildes Chaos bei mir aussieht, wenn ich versuche, da eine koheränte Geschichte rauszuholen? Bitte:

Mein YouTube-Kanal hat da gerade eine Serie zu laufen ...

Die erste Überarbeitung wird also sicherlich aufregend. Die Welt hat alles. Intrigen, rivalisierende Reiche, Werwölfe, Magier, heilige Pusteblumen - und ich habe nach 42k Wörtern immer noch nicht die leiseste Ahnung, wie das alles funktionieren soll.

Immerhin hält mich Hendrik davon ab, wahnsinnig zu werden. Die meiste Zeit.Ehrlich gesagt, da ich jeden Tag an zwei Projekten arbeite, weiß ich auch bei ihm nicht mehr, was überhaupt los ist. Ich hangele mich an meinen Planungen und Notizen entlang (immerhin hat er die) und fürchte, dass das Ergebnis genauso chaotisch werden wird. 

Und wie läuft der Monat bei euch so?
 

01 September 2023

Schreiben und Musik oder: Warum ich ohne Musik kaum Ideen finde.

 Hallo meine lieben Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Vor einiger Zeit bin ich durch einen Freund auf das Thema "Songlisten in Büchern" gestoßen. Er stört sich an der Verbindung, aus dem Gedanken heraus, dass die Auflistung von Liedern eine Abkürzung zu Emotionen darstellt, die eigentlich durch das Schreiben erreicht werden sollen. Und obwohl ich die Idee, eine Playlist in ein Buch zu schreiben, aus mehreren Gründen seltsam finde, stimme ich ihm nicht zu. Warum? Ganz einfach, weil die Musik mir als Autor hilft, überhaupt erst das richtige Gefühl, die richtige Stimmung oder - im schlimmsten Fall - die richtige Idee zu finden. Ich bin nämlich zu gleichen Teilen hyperemotional und gefühlsblind *lacht*

Es gibt kaum eine Idee, für die ich nicht ein Set an Liedern habe, die mich in die passende Stimmung bringen oder mir aus einer Ideen-Sackgasse helfen können. Und wenn ich diese LIede rnicht habe, ist das Projekt tot. Einfache Sache. Manche - eigentlich sogar die meisten - meiner Ideen entstehen aus Liedern oder Lyrik. Die Kombination von Worten und Rhythmus ist ein mächtiges Werkzeug, um Menschen Emotionen zu entlocken, vielleicht sogar ein noch mächtigeres als die Kombination von Bild und Ton. Sorry, Hollywood.

Kann Musik also helfen, Bücher besser zu machen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass ja. Allerdings nicht, indem ich Playlists ins Nachwort schreibe. Nicht einmal, indem ich Songzeilen als Kapiteltitel verwende - was ich übrigens für eine legitime Lösung halte und in vielen meiner ursprünglichen Drafts mache. Ich sortiere die Ereignisse meiner Bücher gerne zu entsprechenden Liedern, im fertigen Werk seht ihr davon jedoch ziemlich wenig. In der Regel. Was ihr vielleicht sehr, sind die Unterschiede, ob ich zu einem Ereignis, einem Kapitel, einer Wendung ein passendes Lied hatte oder nicht. Ich bilde mir nämlich ein, dass diese Stellen besser geschrieben sind. Aus dem einfachen Grund, dass ich in dem Lied eine Erinnerung habe, wie ich die Szene gerne hätte. Ich höre mir in der dröfzigsten Überarbeitung das Lied an und weiß wieder, wo ich hinwollte. Mehr noch, ich habe meine alte Begeisterung wieder, die mich ansonsten so spät im Prozess auch durchaus verlassen haben kann.

Musik hilft mir also bei der Planung und bei der Überarbeitung. Nicht unbedingt so sehr beim Schreiben selbst, denn ich kann nicht Musik hören und schreiben. Die Musik lenkt mich zu sehr ab. Ich kann aber stoppen, das Lied dreimal (oder auch dreißigmal) hören, mitgröhlen und dann weiterschreiben. Musik ist ein wenig wie eine fremde Sprache für mich, ein anderer Weg, zu denken und zu fühlen. Ich habe nie erwähnt, dass ich einzelne Teile meiner Geschichten zwar auf Deutsch schreibe, aber durchaus auf Englisch, manchmal auch in gebrochenem Japanisch denke? Oder in Deutsch, das aber chinesischer Grammatik folgt? Was gerade besser zur Szene, Stimmung und den Figuren passt. Mein Prozess ist vielleich überkomplex. Aber er funktioniert für mich.

Sprache ist wichtig, es ist das wichtigste Werkzeug für einen Schriftsteller. Und man sollte sich nicht nur auf die Sprache festlegen, in der man schreibt. Insbesondere nicht nur auf die Grammatik. Und Musik - vor allem auch klassische Musik und Musik, die klassischen Mustern folgt - bringt ein ganz eigenes Verständnis dafür mit. Musik ist Emotion in Struktur, das macht sie stark. Und Schreiben - insbesondere Lyrik - emuliert diesen Zugang. Deswegen ja, Musik macht Bücher besser. Aber nicht mit einer Werbung für mein Spotify.

Worauf wollte ich eigentlich hinaus?

"Gentlemen's Game" (Erscheinungsdatum: Okober 2023) profitiert auch von Musik, obwohl sie im Buch slebst keine Rolle spielt. Shanties, britische Weihnachtslieder, irische Balladen, alles, was mich irgendwie in ein 1800er Mindset bringt (ja, selbst Anno 1800) haben mir dabei geholfen, dieses Monstrum aus fünf verschiedenen Versionen zu einem Werk zusammenzusetzen.

Und ganz zuletzt hat mir ein einziges Lied die Augen dafür geöffnet, was an einer meiner Höhepunktszenen eigentlich schiefläuft. Nicht eine meiner Höhepunktszenen, meiner persönlichen Lieblingsszene. Dem Teil des Buches, den ich perfekt machen möchte. Alle Versionen fühlen sich für mich flach an, ohne, dass ich sagen konnte, warum. Die Szene funktioniert, keine Testleser haben sich beschwert. Aber sie funktioniert nicht für mich. Dann bin ich auf METAKLAPA gestoßen, eine Band, die in dalmatischem Harmoniegesant Iron Maiden Songs covert. Und ich habe gefunden, was der Szene fehlt. Etwas, das nur in dem Cover von "Hallowed be Thy Name" vorhanden ist, aber nicht im Original (und um ehrlich zu sein finde ich die Originale von Iron Maiden durchweg schlechter als die Cover von METAKLAPA *hüstel*): Kraft und Verzweiflung, dicht nebeneinander.

Die Szene hatte Lieder, die mir geholfen haben. Aber sie hatte vorher nicht die richtigen, und das hat sie schwach gemacht. Dieses Wochenende steht die letzte Überarbeitung an und die Szene wird stark. Sie ist relativ weit hinten im Buch, also müsst ihr es lesen, um sie zu finden, aber ich verspreche euch, es wird sich lohnen. Und damit ihr einen kleinen Vorgeschmack bekommt, hier ein Video des Songs:

 
 

COMMUNITY TIME!

Wie sieht es bei euch aus? Nutzt ihr Musik zum Schreiben? Seid iht kleine Verrückte, wie ich, die sich ganze Soundtracks anlegen? Oder trennt ihr die Dinge voneinander?


14 Juli 2023

Satanskerker, Gentlemen's Game und der historische Thriller: 3x1 Grund, sich auf den Herbst zu freuen

 Hallo liebe Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Nach einer gefühlten Ewigkeit - also einem halben Jahr - ist es soweit. Satanskerker (Arbeitstitel Nr. 1) ist an die Testleser gegangen. Ich erwarte sehr gespannt das Feedback, damit ich in den nächsten Überarbeitungswahnsinn fallen kann. Bis dahin weiß ich nicht so recht, was ich eigentlich mit mir anfangen soll.

Der Act-Tower in Hamamatsu

Sicher, da ist Tsuru-Gumi, der Yakuza-Jugendthriller. Das   Coming-of-Age und Coming-Out des Gangster-Sohnes Ikko, der sich keinen schlechteren Zeitpunkt für seine erste große Liebe hätte aussuchen können. Vor der exotischen Kulisse der erstaunlich unbekannten großen Kleinstadt Hamamatsu entwickelt sich so das Schicksal der Zwillingsbrüder Ikko und Niko in ihrem Kampf um die Anerkennung ihres Vaters.

Tsuru-Gumi sucht übrigens auch willige Testleser, denn die Rohfassung steht schon! Als Testleser erhaltet ihr quasi einen Beta-Zugang zum ebook. Im Gegenzug erwarte ich nur, dass ihr ein paar Fragen zum Buch beantwortet und - vielleicht, wenn ihr geneigt seid - nach Release eine Rezension hinterlasst.

Auf der anderen Seite ist mein etwas wahnsinniges Projekt, aus meinem ersten eigenen "Roman" Lionheart ein funktionierndes Stück Fantasy-Geschichte zu machen. Szene für Szene gehe ich das alte Manuskript durch, schaue mir meine peinlichen Fehler an und bessere sie live aus. Am Ende des Projekts habe ich dann hoffentlich eine zusammenhängende Rohfassung, die sich mehr oder minder nahtlos an mein letztjähriges NaNo-Projekt anschließen lässt. Eine Grundlage für eine Trilogie. Wer sich für den Wahnsinn interessiert, möge mir auf Twitch oder YouTube folgen. Streams finden unregelmäßig Samstag oder Sonntag Nachmittag statt.

An der Überarbeitungsfront warten auch noch Maranaga, die Wege des Wahnsinns und die (noch sehr experimentelle) Suche nach den sieben Steinen. Und im Vorbereitungs-Ordner streitet mehr als eine Idee um das Recht, das diesjährige NaNo-Projekt zu werden. Genug zu tun ist also, neben der Vorbereitung für das Release von Satanskerker.

Worauf wollte ich hier eigentlich hinaus? Ah, genau. Ich wollte nur ein kurzes Hallo in die Welt geben und daran erinnern, dass im Herbst eine Mordermittlung im viktorianischen England auf euch wartet!

Bis dahin, frohes Schreiben!

Rhada

02 Juli 2023

Der Unterstand

 Endlich hatte sie eine Höhle gefunden, die sie vor dem herannahenden Unwetter schützen konnte. Der Eingang lag hoch über dem Boden, weit genug, um die Wogen des Hochwassers aufzuhalten. Hoch genug, um ihren Feinden den Weg zu versperren. Sie kletterte auf die seltsamen, glatten Steine im Inneren. Ein Bein nach dem anderen, rechts und links im Wechsel. Im hellen Tageslicht, das ihr durch die Öffnung folgte, erkannte sie den Abgrund und die Wand dahinter. Irgendwo dort würde sie sich einen Spalt suchen und das Wetter abwarten. Vielleicht dauerte es zwei, vielleicht auch vier Tage, dann konnte sie in die offene Welt zurück, sich einen Partner und ein Nest suchen.


Der Abgrund war tiefer und die Strecke weiter, als sie vermutet hatte. Als sie die Wand erreicht hatte, war die Sonne bereits verschwunden und nur der Mond erleuchtete blass die glatten Steine im Inneren. Ab und an zuckte ein Blitz am Himmel. Ein langer, andauernder Blitz. Nicht das rasche Leuchten des Gewitters, das sie fürchtete. Ein tonloser Blitz, mehr eine kleine Sonne, die nach kurzer Zeit erlischt.
Der Aufstieg war beschwerlich. Immer wieder rutschte sie an den glatten Steinen hinab. Glatte Steine, die seltsam rochen. Beinahe wie die Blumen auf dem weiten Feld, aber doch anders. Süßlich und scharf zugleich. Ob sich Insekten zu diesen Steinen verirrten, um sie auszulecken? Wenn ja, hatte sie großes Glück. Diese seltsame Höhle war das Paradies. Schutz vor Unwetter und Feinden, aber der falsche Geruch der Blüten lockte Beute an.


Die Dunkelheit umhüllte die Höhle nun vollständig. Sie tastete sich vorwärts. Bein für Bein, rechts und links im Wechsel, bis sie eine schmale Öffnung fand. Ein eigentümlich runder Spalt, kaum größer als ihr Hinterleib. Ein perfektes Versteck vor dem Regen. Nichts würde sie hier finden. Kein Vogel, nicht einmal eine andere Spinne. Und der Spalt fühlte sich zudem weich an. Der Geruch war gewöhnungsbedürftig, sicher. Die falschen Blumen mischten sich mit einem stumpfen Gestank, den sie nicht zuordnen konnte. Aber daran störte sie sich nicht. Sie genoss die Enge, Wärme und Sicherheit des Spalts an der Wand. Von hier aus konnte sie sogar den Eingang sehen. Kein Feind würde ihr so zu nahe kommen können. Von Sicherheit umwoben schlief sie ein.


Regen prasselte auf die Steine um ihre Höhle. Laute, wilde Tropfen. Das Unwetter weckte sie, trieb sie aus ihrem sicheren Spalt. Durch den Eingang der Höhle fiel strahlender Sonnenschein. Der Geruch der falschen Blumen erfüllte den Raum. Und immer wieder das Prasseln des Regens. Wie kam das Wasser in die Höhle? War sie in Gefahr?


Erst nervös, dann panisch zog sie sich aus dem Spalt hervor, suchte nach Halt an den glatten, seltsamen Steinen, die nun glatt vor Nässe waren. Ein riesiges Tier stand neben dem Spalt in der Höhle und starrte sie an. Es war zu groß, als dass sie es gänzlich erfassen konnte, aber sie spürte den Blick. Sie bewegte sich nicht. Sie konnte sich tot stellen, ganz, wie es ihre Art war. Aber der Regen staute sich in der Höhle. Wenn sie von der Wand fiel, würde sie auf das Wasser treffen und elendiglich ertrinken. Sie musste weg. Raus aus dem Regen, weg von dem großen Tier. Sie verstand nicht einmal, wie ein so großes Tier durch die kleine Öffnung der Höhle gepasst hatte.


Der Regen hörte auf. Das Tier wendete sich ab, griff nach einem riesigen Stein am Boden. Der Geruch falscher Blumen betäubte für einen Moment ihre Sinne. Sie durfte sich nicht aufhalten lassen. Sie musste fliehen. Höher, weiter, an die Decke der Höhle. Der Aufstieg war anstrengend. Ihre Beine mit den kleinen Klauen fanden kaum Halt. Die winzigen Poren der Steine waren mit Wasser gefüllt, ließen sie immer wieder abrutschen.


Der Regen begann von Neuem.


Sie blieb stehen, suchte einen besseren Aufstieg. Unter ihr glänzte ein metallener Vorsprung, der sich allmählich mit heißer Feuchtigkeit überzog. Die Luft verwandelte sich in Nebel, der in ihren Tracheen kondensierte. Sie hielt inne. Vielleicht musste sie nicht weiter fliehen. Das Tier interessierte sich nicht mehr für sie und der Regen schien sie nicht zu erreichen.


Wieder setzten die Tropfen aus. Das Tier trat an ihr vorbei, würdigte sie keines Blickes. Es verschwand im Nebel, der die Höhle ausfüllte und kehrte nicht mehr zurück. Sie wartete, bis die Nacht erneut hereinbrach. Das Unwetter war vorbei, sie kehrte in die offene Freiheit zurück.

25 Juni 2023

Scheckkartenspuckender Snackautomat

 Es war ein gewöhnlicher Donnerstagvormittag, so gegen elf Uhr, ich stand am Frankfurter Hauptbahnhof und wartete auf eine U-Bahn zum Willy-Brand-Platz.


Ich war froh, in der urinverseuchten U-Bahn-Station zu sein. Draußen war es kalt und selbst auf den oberirdischen Bahnsteigen noch windig, doch hier in der Station staute sich die Luft, was eine gemütliche Wärme mit sich brachte. Mein Blick fiel auf die Anzeigetafeln für die U-Bahn-Linien. U5 in vier Minuten. Ich trottete zu den Rolltreppen, die unter der Station hindurch zu den S-Bahnen führen, um mir die polierten Kalksteine anzusehen, mit denen die Wände dort verkleidet sind. Auf einer der Platten sind eindeutig Fossilien zu sehen; mehrere, auch sehr große Gehäuse irgendwelcher Tiere, aber außer einer winzigen Schnecke kann ich keine der Formen irgendeinem Wesen zuordnen. Sie sehen aus wie riesige Pantoffeltierchen.


Auf dem Weg zu den Kalksteinplatten kommt man an einem der Snackautomaten vorbei, die die Verkehrsbetriebe auf den großen Bahnhöfen aufstellen. Diese unseligen Dinger, in denen wenigstens fünfzig Prozent der Waren bezahlt im Gehäuse hängen bleiben. Ich hatte schon mal Ärger mit der Bahnhofspolizei, weil ich einen der Automaten deshalb geschüttelt hatte.


Als ich an dem Gerät vorbeiging, hörte ich ein leises Klacken, wie wenn ein Stück Pappe auf den Fußboden fällt. Ich sah mich um. Der Automat hatte eine kleine, blaue Scheckkarte ausgespuckt, die jetzt vielleicht einen Schritt von dem Gerät entfernt am Boden der U-Bahn-Station lag. Ich blieb stehen und sah abwechselnd zwischen der Karte und dem Automaten hin und her. Ein Besitzer der Karte war unter den Fahrgästen auf dem Bahnsteig nicht auszumachen. Was tut man in so einem Fall? Die Karte ignorieren, so tun, als hätte man nichts gesehen? Das hier war ein Bahnhof, wer wusste, in welche Hände die Karte dann gelangen würde? Die Polizei rufen? Wegen einer herrenlosen Scheckkarte, die aus einem Automaten gespuckt wurde? Das Fundbüro? Mein Blick begegnete dem einer Frau in den Vierzigern, die das Ganze ebenfalls gesehen hatte.


»Die kam gerade aus dem Automat«, murmelte die Frau.


»Mmhm.« Ich ging auf die Karte zu.


»Aber hier ist niemand ...«


Ich bückte mich nach der Karte und hob sie auf. Es handelte sich nicht um eine Bank- oder Scheckkarte, sondern um eine Art Ausweis. Die Frau kam auf mich zu und sah mir über die Schulter. »Was ist das?«


Ich drehte das blassblaue Stück Plastik zwischen den Händen herum. Sie zeigte das Logo der Firma Opel, dazu die Aufschrift »Der Opel-Vertragshändler Ihres Vertrauens« und einige Daten, darunter den Namen des Vertreters, zu dem die Karte vermutlich gehörte. Ich wollte der Frau meinen Entschluss mitteilen, die Karte zum Fundbüro zu bringen, als sich ein junges Pärchen in das Gespräch einmischte. Die beiden hatten die ganze Zeit über in der Nähe der Infosäule gestanden. Sie hatte langes, strähniges, schwarzes Haar und überaus fettige Haut. Ihre Kleidung war ungewaschen. Er hatte blonde Locken, trug eine zerrissene Jeans und ein ausgewaschenes Hemd. In den Händen hielt jeder von ihnen eine Bierflasche. Er kam einen Schritt auf uns zu und wedelte mit der freien Hand, dabei rief er: »Ey! Die is uns!«


Die Frau und ich sahen uns an. Sie hatte eine Augenbraue gehoben und ihre Lippen zusammengepresst. Sie antwortete: »Wie, die Karte gehört Ihnen?«


»Ja. Die is uns«, begann der Obdachlose zu erklären: »Die ha’m wir da oben von so’nem Typen gekriegt. Hat die uns einfach in die Hand gedrückt. Die Karte is uns.«


»Genau«, sagte seine Partnerin: »Einfach gegeben hat der die uns. Wir kannten den Typ gar nicht.«


»Schmeißen Se die am Besten weg. Keine Ahnung, wo der Typ die hergehabt hat. Gibt nur Ärger mit sowas. Wir wollen keinen Ärger. Sie auch net. Heißt sonst noch, wir hätten’s geklaut. Oder Sie.«


Ich wollte die Karte gerade einstecken und die Sache mit dem Fundbüro erklären, als der Kerl auf mich zukam und mir die Ausweiskarte aus der Hand zog. Er ging damit zu dem kleinen, viereckigen Mülleimer neben dem Snackautomaten und pfefferte sie dort hinein. Die Frau und ich sahen im verwirrt dabei zu.


»So is besser. Kein Ärger. Sie kriegen keinen, wir ha’m keine, alles gut.« Er gesellte sich wieder zu seiner Partnerin, als die U-Bahn einfuhr und die einsteigenden Massen mich für einen Moment von der Karte ablenkten.

18 Juni 2023

Navi in Belgrad

 »Pjotr! Sie haben geantwortet! Ich kann sofort anfangen!« Marija wedelte mit dem Brief vor der Nase ihres Verlobten herum.


Pjotr nahm ihr Handgelenk und drückte es sanft herunter. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch der Meinung, dass an diesem Krankenhaus etwas nicht stimmt. Der Lohn ist zu hoch und sie bezahlen dir sogar das Hotel, damit du in der Probezeit in der Nähe wohnen kannst. Ich bitte dich.«


»Du bist ein Griesgram. Freu dich lieber. Das ist die beste Stelle, die ich als Kinderärztin überhaupt bekommen kann.«


»Vielleicht. Wenn du denn in dem Krankenhaus überhaupt noch Patienten haben wirst. Ist das nicht diese Säuglingsklinik mit Entbindungsstation? Wo in den letzten Wochen immer wieder Schwangere gestorben sind?«


Marija seufzte, legte den Brief auf dem Tisch ab und setzte sich. Sie sah Pjotr tief in die Augen. »Ja, das ist die Klinik. Sie hatten ein paar Unglücksfälle in der letzten Zeit. Das kann in jeder Klinik passieren. Ich werde mir die Klinik jedenfalls ansehen. Du weißt, dass wir kein Geld haben, damit ich eine eigene Praxis aufmachen kann. Ich werde nach dem Essen packen und nach Belgrad fahren.«


»Wann kommst du wieder?«


»Mal sehen, wann ich frei habe. Wenn ich die Stelle behalte, müssen wir umziehen, irgendwann.«
»Wenn du die Stelle behältst. Nicht, dass ich sie dir nicht gönne, aber ich habe ein ganz schlechtes Gefühl dabei.«


»Du bist blöde.« Marija lachte und griff nach der Milchflasche.


Nach dem Frühstück stand sie auf und ging ins Schlafzimmer, um die nötigen Sachen zusammen zu packen. Die Klinik bezahlte ihr ein Hotel inklusive Essen und Ausgaben für Wäscherei. Vermutlich ging dies von ihrem Einstellungsgehalt ab, aber das war Marija egal. Auf diese Weise entfiel die leidige Suche nach einer Wohnung in dem Belgrader Vorort, in dem sich die Klinik befand. Sie verabschiedete sich von ihrem Verlobten und fuhr zu ihrem Hotel, wo sie die Koffer abstellte und sich sofort wieder auf den Weg machte. Diesmal fuhr sie zu ihrer neuen Arbeitsstelle.


Die kleine Klinik lag nicht wiet von dem Hotel entfernt. Vermutlich war es für die Eltern der kranken Babys gebaut worden oder für die Männer der Frauen, die hier auf ihre Entbindung warteten. Das Gebäude selbst war neu und luftig und erstaunlich leer. Marija ging an den Empfangstresen und stellte sich vor, um kurz darauf mit dem Leiter des Krankenhauses zu sprechen. Anschließend wurde sie von einer kräftigen Frau abgeholt und durch das Gebäude geführt.


»Ich heiße Andjela, es ist schön, Sie kennenzulernen, Frau?«


Marija winkte lächelnd ab. »Nennen Sie mich Marija. Sie sind die Oberschwester?«


»Ja. Ich bin für die Entbindungsstation zuständig. Leider sind Sie zu einem schlechten Zeitpunkt hier angekommen, Marija. Das Krankenhaus stirbt.«


»Es stirbt? Ist das nicht etwas dramatisch ausgedrückt?«


»Keineswegs.« Andjela blieb stehen. Sie wandte sich zu Marija um, sah jedoch an ihr vorbei. »Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen? In unserem Krankenhaus sterben Frauen, Wöchnerinnen und Schwangere. Deshalb kommen immer weniger Frauen zur Entbindung hierher. Viele bringen auch ihre Kinder lieber in ein anderes Krankenhaus. Wenn das so weitergeht, müssen wir zu machen.«


»Ich habe von den Fällen gehört. Was genau ist passiert?«


»Die Kollegen reden von einem Fluch, nicht, dass ich das glauben würde. Ich bin nicht abergläubig. Sind Sie abergläubig?«


Marija schüttelte den Kopf.


Andjela seufzte. »Die Frauen sterben nachts. Sie legen sich am Abend zuvor in ihr Bett und schlafen, am nächsten Morgen sind sie tot. Wir Schwestern finden sie im Bett in einer Blutlache liegen. Es sieht aus, als hätte sie irgendjemand mit einem langen, scharfen Gegenstand in den Uterus gestochen und sie dann verbluten lassen. Außerdem wurden die Frauen gemolken.«


»Warum sollte jemand so etwas tun?« Marijas Augen weiteten sich vor Entsetzen.


Die Oberschwester zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht sind es Konkurrenten unserer Klinik, wer weiß das schon? Viel seltsamer sind die Vorfälle, wenn sie eine Hochschwangere betreffen. Den Toten fehlt das Fruchtwasser und der Fötus ist ebenfalls verblutet.«


»Was? Warum sollte jemand das Fruchtwasser stehlen?«


»Das verstehen wir auch nicht. Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass es sich um eine krude Sekte handelt. Es gibt doch mittlerweile alle möglichen organisierten Verrückten. Vielleicht glauben sie, dass das Fruchtwasser ihnen ewiges Leben verleiht oder sie beten einen Gott in Form eines Neugeborenen an, was weiß ich. Die Regierung sollte wirklich etwas dagegen tun.« Andjela griff an das kleine Kruzifix an ihrem Hals und umschloss es mit der Hand.


Marija presste ihre Lippen zusammen. »Das klingt alles sehr merkwürdig.«


»Das ist es auch. Ich an Ihrer Stelle würde gar nicht erst anfangen, hier zu arbeiten. Gehen Sie zum Chef zurück und sagen Sie ihm, dass Sie es sich anders überlegt haben. Fahren Sie nach Hause zurück und kommen Sie besser nicht mehr hier her.«


»Das ist doch lächerlich.« Marija machte eine heftige Geste. »Nein, ich werde hierbleiben. Ganz gleich, ob es ein Fluch ist, eine Sabotage oder eine Sekte. Das wird auch wieder vorbeigehen.«
Und Marija blieb. Sie lebte in dem kleinen Belgrader Vorort in ihrem Hotel und verbrachte viel Zet im Krankenhaus. Sie bemühte sich, die Frauen und Kinder kennenzulernen und ein gutes Verhältnis mit ihren Kollegen aufzubauen. Seit sie in der Klinik angefangen hatte, hatte es noch keinen Vorfall gegeben. Dennoch ließen Marija die Gedanken an die Geschichte nicht los, die Andjela ihr erzählt hatte.


Sie beschloss, nach der nächsten Spätschicht im Krankenhaus zu bleiben und sich nächtens dort umzusehen. Irgendwo mussten sich doch Hinweise auf die Vorgänge finden lassen. In ihrer ersten Woche hatte man ihr noch keine Nachtschichten zugeteilt, wodurch sie die Klinik noch nie bei Dunkelheit betreten hatte.


Sie beendete ihre Schicht und setzte sich anschließend in einen kleinen Aufenthaltsraum, wo sie zwei Tassen Kaffee trank. Sie beobachtete die fortschreitende Dunkelheit durch das Fenster und als es dunkel genug war, stand sie auf und ging durch die Gänge.


Das Krankenhaus lag vollkommen still da, Marija konnte ihre Schritte und ihren Atem hören. Die Notlichter auf den Fluren waren die einzige Beleuchtung, doch auch sie konnten die Dunkelheit nicht fernhalten. Überall herrschte Zwielicht. Sie passierte das Schwesternzimmer, aus welchem gedämpftes Reden auf den Gang hinaus klang und für einen Moment Marijas Schritte übertönte. Dann waren die Frauen außer Hörweite und die junge Ärztin war wieder mit sich und der Stille allein.


Eine der Lampen auf dem Gang flackerte. Marija blieb stehen und sah dem unruhigen Hell-Dunkel zu, bis sich das Licht wieder gefangen hatte und blass gegen die Nacht ankämpfte. Sie ging weiter. Aus einem der Zimmer drang ein Geräusch wie das Flügelschlagen eines flatternden Vogels. Sie blieb stehen und lauschte. Etwas kratzte hinter der Tür über den Boden, hielt inne und schrei dann gell auf. Das Geräusch zerriss die allgegenwärtige Stille mit einer viel zu hohen Frequenz. Marija konnte das Gekreisch kaum hören, vielmehr spürte sie es in ihren Knochen. Es war ein Gefühl, als ob jemand eine Gabel über ihre Wirbelsäule ziehen würde. Sie schüttelte sich, stürmte in das Zimmer, aus welchem das Geräusch kam, und erstarrte beim Anblick dessen, was darin geschah.


Ein Vogel, etwa so groß wie ein fünfjähriges Kind, kauerte vor dem Fußende des einzigen belegten Bettes. Er hatte seinen langen Schnabel in den Unterleib der Frau gesteckt, die das Zimmer bewohnte, und schien genüsslich aus ihrer Gebärmutter zu trinken. Seine dunklen Federn spiegelten fahl das Notlicht vom Gang wieder, als seien sie aus einem glänzenden Metall gefertigt. Sein Kopf war kahl wie der eines Geiers und mit kaltem Entsetzen stellte Marija fest, dass das Wesen keine Augen besaß.
Marija zitterte, ihr war kalt und ihr Mund war vollkommen trocken. Gleichzeitig spürte sie, wie Schweiß auf ihre Stirn trat. Sie taumelte einen Schritt zurück, wollte fliehen, doch sie wagte es nicht, dem Wesen den Rücken zuzudrehen. Das leise Schmatzen, mit dem der Vogel die Frau aussaugte, jagten Marija Gänsehaut über den Rücken. Im Augenwinkel sah sie eine Bewegung hinter dem Vorhang. Sie wandte den Kopf langsam ab, so, dass sie den Vogel am Bett noch sehen konnte.
Neben dem Fenster zog sich ein Schatten aus der Wand heraus. Langsam nahm er Form in den Raum hinein an. Ein Schnabel wuchs aus der Dunkelheit, dann ein Kopf und ein gefiederter Körper. Ein zweiter Vogel stand neben dem Vorhang, schüttelte sich und sandte dasselbe knochenschindende Kreischen aus wie das Tier am Bett. Dann watschelte er auf Marija zu.


Sie wusste nicht, ob sie schrie. Sie konnte sich selbst nicht hören, ihr Herz pochte viel zu laut. Sie ging rückwärts auf den Gang, bis sie mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand anstieß. Der zweite Vogel kam langsam auf sie zu. Sie sah sich um und floh, einem Impuls folgend, in Richtung Notausgang. Der Vogel hinter ihr beschleunigte seine Schritte. Der Gang war zu schmal, als dass das große Tier hätte fliegen können.


Marija rannte schneller. Sie sah sich nicht mehr um. Vor ihr leuchtete grün das Schild ›Notausgang‹. Sie öffnete die Tür und stolperte eine Feuertreppe hinab in den Garten des Krankenhauses und von dort hinaus auf die Straße. Erst da sah sie wieder zurück.


Der Vogel saß auf dem Geländer der Feuertreppe und schlug heftig mit den Flügeln. Er verfolgte sie nicht mehr.


Sie sah sich um. Entstanden hier aus der Nacht noch mehr dieser Wesen? Sie musste weg. Weit weg. Pjotr und Andjela hatten recht. Es war dumm gewesen, hierher zu kommen. Sie lief zum Hotel. Morgen würde sie aufbrechen. Sofort. Nein, nicht sofort. Erst musste sie Andjela von der Begegnung erzählen. Aber sie würde dieses Gebäude nie wieder in der Nacht betreten.


Sie saß im hell erleuchteten Hotelzimmer und wartete darauf, dass die Nacht vorbeiging. Mit den ersten Sonnenstrahlen stand sie auf und kehrte zum Krankenhaus zurück. Der Vogel auf dem Geländer war verschwunden, die Angestellten im Krankenhaus waren in heller Aufregung. Marija bahnte sich ihren Weg durch die wogende Masse an Ärzten und Schwestern ins Schwesternzimmer. Sie setzte sich auf einen Stuhl und wartete, dass Andjela zu ihrem Dienst auftauchte.


Eine Hand an ihrer Schulter holte sie in die Realität zurück. Sie blinzelte und sah in das Gesicht der Oberschwester.


Andjela lächelte und reichte ihr einen Kaffee. »Was gibt es? So früh schon hier?«


»Ich war gestern nach im Krankenhaus, als die Frau umgekommen ist.« Marija nahm einen Schluck. »Ich habe gesehen, was passiert ist. Es war so unwirklich. Da war ein riesiger dunkler Vogel, er hat seinen Schnabel in die Frau gesteckt und von ihr getrunken. Ein zweiter Vogel kam aus der Wand und hat mich angegriffen, aber ich konnte fliehen. Er hat mich nicht weiter als bis zum Ausgang verfolgt.«
Andjela legte die Stirn in Falten, doch ihr Blick war aufmerksam und keineswegs zweifelnd. »Sie waren sicher wach?«


»Ganz sicher. Die Vögel hatten einen langen Schnabel. Sie waren ungefähr so groß wie Schulkinder und blind. Ihre Köpfe waren ganz nackt.«


Die Oberschwester stellte ihren Kaffee ab, stand auf und holte ein Buch aus einem kleinen Regal neben der Tür. Sie blätterte schweigend darin und gab es schließlich aufgeschlagen an Marija. »Es gibt auf dem Land die Legende, dass die Seelen totgeborener Kinder als Vögel in die Welt zurückkehren. Sie stehlen Milch von säugenden Frauen und säugendem Vieh und töten aus Rachsucht Schwangere. Man nennt sie Navi.«


Marija betrachtete die Illustration in dem Buch. »Das waren die Vögel, ganz sicher.« Sie sah Andjela an. »Man sagt, nur diejenigen, die zur gleichen Stunde wie das tote Kind geboren sind, seien in der Lage, die Navi zu sehen. Vor rund achtundzwanzig Jahren wurden hier Zwillinge geboren. Einer starb bei der Geburt, der andere wenige Stunden später. Damals gab es den Flügel noch nicht, wo heute die Entbindungsstation ist, da war der Friedhof.«


»Und diese Vögel, die ich gesehen habe ...?«


»Waren Navi. Vielleicht.« Andjela seufzte und nahm ihren Kaffee.


Marija widmete sich dem Buch. Tatsächlich waren die Navi Geistwesen aus alten Legenden. Alles, was Andjela ihr erzählt hatte, stand in ähnlicher Weise auch in diesem Buch. Aber konnte es diese Wesen geben, die nur von wenigen Menschen gesehen werden konnten? Warum sollten sie so rachsüchtig sein? Sie sah auf.


Andjela zuckte mit den Schultern. »Sie wollten Leben. Vielleicht ist es keine Rache, vielleicht ist es nur der verzweifelte Versuch, zu leben.«


»Wie kann man sie aufhalten?«


»Eine Seele verlässt den Raum durch ein Fenster und findet durch Feuer zum Himmel. Mit der zeit hat man hier in der Gegend keine Leichen mehr verbrannt, vor allem nicht die von Säuglingen. Die Eltern wollten es nicht. Mit Sicherheit liegen hier irgendwo unter dem Krankenhaus die Überreste der Zwillinge.«


»Dann müssen wir sie verbrennen.« Marija klappte das Buch zu und gab es an die Oberschwester zurück.


»Und wie stellen Sie sich das vor? Das Krankenhaus steht auf dem Friedhof.«


Marija seufzte. Sie stand auf und ging in das Hotel zurück. Andjela hatte recht, man konnte nicht einfach das Krankenhaus anzünden. Ob man dem Direktor von den Navi erzählen konnte? Würde er es glauben? Sie schüttelte für sich selbst den Kopf. Nein, man musste anders vorgehen. Sie musste einen guten Plan fassen. Vielleicht half die Idee mit der Sekte weiter.


Am Nachmittag hatte sie sich entschieden. Sie nahm das Telefon in ihrem Hotelzimmer und rief Pjotr an. »Pjotr? Ich bin’s, Mari. Ja, mir geht es gut. Ich brauche deine Hilfe.«


Sie schwieg einen Moment. »Ich will, dass du in Belgrad bei der Polizei anrufst. Du musst einen anonymen Hinweis abgeben, dass eine Sekte einen Anschlag auf das Krankenhaus geplant hat, in dem ich arbeite. Sie wollen das Gebäude mit einer Bombe in die Luft sprengen. Die Polizei soll schnellstmöglich alle Patienten aus dem Gebäude schaffen und das Personal warnen. Ich erkläre dir die Sache, wenn ich wieder zu Hause bin. Tu mir den Gefallen, ja? Ich liebe dich.«


Sie kehrte ins Krankenhaus zurück und verließ es nicht mehr, bis die Polizei aus Belgrad eintraf und das Gebäude räumen ließ. In der allgemeinen Hektik setzte sie sich ab und verschwand in den Keller, in den Raum, wo die Putzutensilien lagen. Sie suchte nach Verdünner und alten Besen und Handfegern aus Holz und Tierhaar, die sich gut anzünden ließen. Anschließend brachte sie alles in einen abgelegenen Raum, stapelte die Besen und setzte es in Brand. Sie rannte aus dem Gebäude und schloss sich den flüchtenden Patienten und Kollegen an. Auf dem Hof entfernte sie sich erneut aus der Gruppe und legte Feuer an die Blumenbeete. Es dauerte eine Weile, bis aus den Schwelbränden richtige Flammen wurden. Marija wartete, bis die Polizei die Feuerwehr alarmiert hatte und beobachtete währenddessen die Flammen. Unter all dem Knacken und Knistern glaubte sie, ein gellendes Schreien zu hören. Die Navi konnten den Weg in den Himmel finden. Vielleicht. Wenn das Feuer stark genug war.