25 Juni 2023

Scheckkartenspuckender Snackautomat

 Es war ein gewöhnlicher Donnerstagvormittag, so gegen elf Uhr, ich stand am Frankfurter Hauptbahnhof und wartete auf eine U-Bahn zum Willy-Brand-Platz.


Ich war froh, in der urinverseuchten U-Bahn-Station zu sein. Draußen war es kalt und selbst auf den oberirdischen Bahnsteigen noch windig, doch hier in der Station staute sich die Luft, was eine gemütliche Wärme mit sich brachte. Mein Blick fiel auf die Anzeigetafeln für die U-Bahn-Linien. U5 in vier Minuten. Ich trottete zu den Rolltreppen, die unter der Station hindurch zu den S-Bahnen führen, um mir die polierten Kalksteine anzusehen, mit denen die Wände dort verkleidet sind. Auf einer der Platten sind eindeutig Fossilien zu sehen; mehrere, auch sehr große Gehäuse irgendwelcher Tiere, aber außer einer winzigen Schnecke kann ich keine der Formen irgendeinem Wesen zuordnen. Sie sehen aus wie riesige Pantoffeltierchen.


Auf dem Weg zu den Kalksteinplatten kommt man an einem der Snackautomaten vorbei, die die Verkehrsbetriebe auf den großen Bahnhöfen aufstellen. Diese unseligen Dinger, in denen wenigstens fünfzig Prozent der Waren bezahlt im Gehäuse hängen bleiben. Ich hatte schon mal Ärger mit der Bahnhofspolizei, weil ich einen der Automaten deshalb geschüttelt hatte.


Als ich an dem Gerät vorbeiging, hörte ich ein leises Klacken, wie wenn ein Stück Pappe auf den Fußboden fällt. Ich sah mich um. Der Automat hatte eine kleine, blaue Scheckkarte ausgespuckt, die jetzt vielleicht einen Schritt von dem Gerät entfernt am Boden der U-Bahn-Station lag. Ich blieb stehen und sah abwechselnd zwischen der Karte und dem Automaten hin und her. Ein Besitzer der Karte war unter den Fahrgästen auf dem Bahnsteig nicht auszumachen. Was tut man in so einem Fall? Die Karte ignorieren, so tun, als hätte man nichts gesehen? Das hier war ein Bahnhof, wer wusste, in welche Hände die Karte dann gelangen würde? Die Polizei rufen? Wegen einer herrenlosen Scheckkarte, die aus einem Automaten gespuckt wurde? Das Fundbüro? Mein Blick begegnete dem einer Frau in den Vierzigern, die das Ganze ebenfalls gesehen hatte.


»Die kam gerade aus dem Automat«, murmelte die Frau.


»Mmhm.« Ich ging auf die Karte zu.


»Aber hier ist niemand ...«


Ich bückte mich nach der Karte und hob sie auf. Es handelte sich nicht um eine Bank- oder Scheckkarte, sondern um eine Art Ausweis. Die Frau kam auf mich zu und sah mir über die Schulter. »Was ist das?«


Ich drehte das blassblaue Stück Plastik zwischen den Händen herum. Sie zeigte das Logo der Firma Opel, dazu die Aufschrift »Der Opel-Vertragshändler Ihres Vertrauens« und einige Daten, darunter den Namen des Vertreters, zu dem die Karte vermutlich gehörte. Ich wollte der Frau meinen Entschluss mitteilen, die Karte zum Fundbüro zu bringen, als sich ein junges Pärchen in das Gespräch einmischte. Die beiden hatten die ganze Zeit über in der Nähe der Infosäule gestanden. Sie hatte langes, strähniges, schwarzes Haar und überaus fettige Haut. Ihre Kleidung war ungewaschen. Er hatte blonde Locken, trug eine zerrissene Jeans und ein ausgewaschenes Hemd. In den Händen hielt jeder von ihnen eine Bierflasche. Er kam einen Schritt auf uns zu und wedelte mit der freien Hand, dabei rief er: »Ey! Die is uns!«


Die Frau und ich sahen uns an. Sie hatte eine Augenbraue gehoben und ihre Lippen zusammengepresst. Sie antwortete: »Wie, die Karte gehört Ihnen?«


»Ja. Die is uns«, begann der Obdachlose zu erklären: »Die ha’m wir da oben von so’nem Typen gekriegt. Hat die uns einfach in die Hand gedrückt. Die Karte is uns.«


»Genau«, sagte seine Partnerin: »Einfach gegeben hat der die uns. Wir kannten den Typ gar nicht.«


»Schmeißen Se die am Besten weg. Keine Ahnung, wo der Typ die hergehabt hat. Gibt nur Ärger mit sowas. Wir wollen keinen Ärger. Sie auch net. Heißt sonst noch, wir hätten’s geklaut. Oder Sie.«


Ich wollte die Karte gerade einstecken und die Sache mit dem Fundbüro erklären, als der Kerl auf mich zukam und mir die Ausweiskarte aus der Hand zog. Er ging damit zu dem kleinen, viereckigen Mülleimer neben dem Snackautomaten und pfefferte sie dort hinein. Die Frau und ich sahen im verwirrt dabei zu.


»So is besser. Kein Ärger. Sie kriegen keinen, wir ha’m keine, alles gut.« Er gesellte sich wieder zu seiner Partnerin, als die U-Bahn einfuhr und die einsteigenden Massen mich für einen Moment von der Karte ablenkten.

18 Juni 2023

Navi in Belgrad

 »Pjotr! Sie haben geantwortet! Ich kann sofort anfangen!« Marija wedelte mit dem Brief vor der Nase ihres Verlobten herum.


Pjotr nahm ihr Handgelenk und drückte es sanft herunter. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch der Meinung, dass an diesem Krankenhaus etwas nicht stimmt. Der Lohn ist zu hoch und sie bezahlen dir sogar das Hotel, damit du in der Probezeit in der Nähe wohnen kannst. Ich bitte dich.«


»Du bist ein Griesgram. Freu dich lieber. Das ist die beste Stelle, die ich als Kinderärztin überhaupt bekommen kann.«


»Vielleicht. Wenn du denn in dem Krankenhaus überhaupt noch Patienten haben wirst. Ist das nicht diese Säuglingsklinik mit Entbindungsstation? Wo in den letzten Wochen immer wieder Schwangere gestorben sind?«


Marija seufzte, legte den Brief auf dem Tisch ab und setzte sich. Sie sah Pjotr tief in die Augen. »Ja, das ist die Klinik. Sie hatten ein paar Unglücksfälle in der letzten Zeit. Das kann in jeder Klinik passieren. Ich werde mir die Klinik jedenfalls ansehen. Du weißt, dass wir kein Geld haben, damit ich eine eigene Praxis aufmachen kann. Ich werde nach dem Essen packen und nach Belgrad fahren.«


»Wann kommst du wieder?«


»Mal sehen, wann ich frei habe. Wenn ich die Stelle behalte, müssen wir umziehen, irgendwann.«
»Wenn du die Stelle behältst. Nicht, dass ich sie dir nicht gönne, aber ich habe ein ganz schlechtes Gefühl dabei.«


»Du bist blöde.« Marija lachte und griff nach der Milchflasche.


Nach dem Frühstück stand sie auf und ging ins Schlafzimmer, um die nötigen Sachen zusammen zu packen. Die Klinik bezahlte ihr ein Hotel inklusive Essen und Ausgaben für Wäscherei. Vermutlich ging dies von ihrem Einstellungsgehalt ab, aber das war Marija egal. Auf diese Weise entfiel die leidige Suche nach einer Wohnung in dem Belgrader Vorort, in dem sich die Klinik befand. Sie verabschiedete sich von ihrem Verlobten und fuhr zu ihrem Hotel, wo sie die Koffer abstellte und sich sofort wieder auf den Weg machte. Diesmal fuhr sie zu ihrer neuen Arbeitsstelle.


Die kleine Klinik lag nicht wiet von dem Hotel entfernt. Vermutlich war es für die Eltern der kranken Babys gebaut worden oder für die Männer der Frauen, die hier auf ihre Entbindung warteten. Das Gebäude selbst war neu und luftig und erstaunlich leer. Marija ging an den Empfangstresen und stellte sich vor, um kurz darauf mit dem Leiter des Krankenhauses zu sprechen. Anschließend wurde sie von einer kräftigen Frau abgeholt und durch das Gebäude geführt.


»Ich heiße Andjela, es ist schön, Sie kennenzulernen, Frau?«


Marija winkte lächelnd ab. »Nennen Sie mich Marija. Sie sind die Oberschwester?«


»Ja. Ich bin für die Entbindungsstation zuständig. Leider sind Sie zu einem schlechten Zeitpunkt hier angekommen, Marija. Das Krankenhaus stirbt.«


»Es stirbt? Ist das nicht etwas dramatisch ausgedrückt?«


»Keineswegs.« Andjela blieb stehen. Sie wandte sich zu Marija um, sah jedoch an ihr vorbei. »Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen? In unserem Krankenhaus sterben Frauen, Wöchnerinnen und Schwangere. Deshalb kommen immer weniger Frauen zur Entbindung hierher. Viele bringen auch ihre Kinder lieber in ein anderes Krankenhaus. Wenn das so weitergeht, müssen wir zu machen.«


»Ich habe von den Fällen gehört. Was genau ist passiert?«


»Die Kollegen reden von einem Fluch, nicht, dass ich das glauben würde. Ich bin nicht abergläubig. Sind Sie abergläubig?«


Marija schüttelte den Kopf.


Andjela seufzte. »Die Frauen sterben nachts. Sie legen sich am Abend zuvor in ihr Bett und schlafen, am nächsten Morgen sind sie tot. Wir Schwestern finden sie im Bett in einer Blutlache liegen. Es sieht aus, als hätte sie irgendjemand mit einem langen, scharfen Gegenstand in den Uterus gestochen und sie dann verbluten lassen. Außerdem wurden die Frauen gemolken.«


»Warum sollte jemand so etwas tun?« Marijas Augen weiteten sich vor Entsetzen.


Die Oberschwester zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht sind es Konkurrenten unserer Klinik, wer weiß das schon? Viel seltsamer sind die Vorfälle, wenn sie eine Hochschwangere betreffen. Den Toten fehlt das Fruchtwasser und der Fötus ist ebenfalls verblutet.«


»Was? Warum sollte jemand das Fruchtwasser stehlen?«


»Das verstehen wir auch nicht. Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass es sich um eine krude Sekte handelt. Es gibt doch mittlerweile alle möglichen organisierten Verrückten. Vielleicht glauben sie, dass das Fruchtwasser ihnen ewiges Leben verleiht oder sie beten einen Gott in Form eines Neugeborenen an, was weiß ich. Die Regierung sollte wirklich etwas dagegen tun.« Andjela griff an das kleine Kruzifix an ihrem Hals und umschloss es mit der Hand.


Marija presste ihre Lippen zusammen. »Das klingt alles sehr merkwürdig.«


»Das ist es auch. Ich an Ihrer Stelle würde gar nicht erst anfangen, hier zu arbeiten. Gehen Sie zum Chef zurück und sagen Sie ihm, dass Sie es sich anders überlegt haben. Fahren Sie nach Hause zurück und kommen Sie besser nicht mehr hier her.«


»Das ist doch lächerlich.« Marija machte eine heftige Geste. »Nein, ich werde hierbleiben. Ganz gleich, ob es ein Fluch ist, eine Sabotage oder eine Sekte. Das wird auch wieder vorbeigehen.«
Und Marija blieb. Sie lebte in dem kleinen Belgrader Vorort in ihrem Hotel und verbrachte viel Zet im Krankenhaus. Sie bemühte sich, die Frauen und Kinder kennenzulernen und ein gutes Verhältnis mit ihren Kollegen aufzubauen. Seit sie in der Klinik angefangen hatte, hatte es noch keinen Vorfall gegeben. Dennoch ließen Marija die Gedanken an die Geschichte nicht los, die Andjela ihr erzählt hatte.


Sie beschloss, nach der nächsten Spätschicht im Krankenhaus zu bleiben und sich nächtens dort umzusehen. Irgendwo mussten sich doch Hinweise auf die Vorgänge finden lassen. In ihrer ersten Woche hatte man ihr noch keine Nachtschichten zugeteilt, wodurch sie die Klinik noch nie bei Dunkelheit betreten hatte.


Sie beendete ihre Schicht und setzte sich anschließend in einen kleinen Aufenthaltsraum, wo sie zwei Tassen Kaffee trank. Sie beobachtete die fortschreitende Dunkelheit durch das Fenster und als es dunkel genug war, stand sie auf und ging durch die Gänge.


Das Krankenhaus lag vollkommen still da, Marija konnte ihre Schritte und ihren Atem hören. Die Notlichter auf den Fluren waren die einzige Beleuchtung, doch auch sie konnten die Dunkelheit nicht fernhalten. Überall herrschte Zwielicht. Sie passierte das Schwesternzimmer, aus welchem gedämpftes Reden auf den Gang hinaus klang und für einen Moment Marijas Schritte übertönte. Dann waren die Frauen außer Hörweite und die junge Ärztin war wieder mit sich und der Stille allein.


Eine der Lampen auf dem Gang flackerte. Marija blieb stehen und sah dem unruhigen Hell-Dunkel zu, bis sich das Licht wieder gefangen hatte und blass gegen die Nacht ankämpfte. Sie ging weiter. Aus einem der Zimmer drang ein Geräusch wie das Flügelschlagen eines flatternden Vogels. Sie blieb stehen und lauschte. Etwas kratzte hinter der Tür über den Boden, hielt inne und schrei dann gell auf. Das Geräusch zerriss die allgegenwärtige Stille mit einer viel zu hohen Frequenz. Marija konnte das Gekreisch kaum hören, vielmehr spürte sie es in ihren Knochen. Es war ein Gefühl, als ob jemand eine Gabel über ihre Wirbelsäule ziehen würde. Sie schüttelte sich, stürmte in das Zimmer, aus welchem das Geräusch kam, und erstarrte beim Anblick dessen, was darin geschah.


Ein Vogel, etwa so groß wie ein fünfjähriges Kind, kauerte vor dem Fußende des einzigen belegten Bettes. Er hatte seinen langen Schnabel in den Unterleib der Frau gesteckt, die das Zimmer bewohnte, und schien genüsslich aus ihrer Gebärmutter zu trinken. Seine dunklen Federn spiegelten fahl das Notlicht vom Gang wieder, als seien sie aus einem glänzenden Metall gefertigt. Sein Kopf war kahl wie der eines Geiers und mit kaltem Entsetzen stellte Marija fest, dass das Wesen keine Augen besaß.
Marija zitterte, ihr war kalt und ihr Mund war vollkommen trocken. Gleichzeitig spürte sie, wie Schweiß auf ihre Stirn trat. Sie taumelte einen Schritt zurück, wollte fliehen, doch sie wagte es nicht, dem Wesen den Rücken zuzudrehen. Das leise Schmatzen, mit dem der Vogel die Frau aussaugte, jagten Marija Gänsehaut über den Rücken. Im Augenwinkel sah sie eine Bewegung hinter dem Vorhang. Sie wandte den Kopf langsam ab, so, dass sie den Vogel am Bett noch sehen konnte.
Neben dem Fenster zog sich ein Schatten aus der Wand heraus. Langsam nahm er Form in den Raum hinein an. Ein Schnabel wuchs aus der Dunkelheit, dann ein Kopf und ein gefiederter Körper. Ein zweiter Vogel stand neben dem Vorhang, schüttelte sich und sandte dasselbe knochenschindende Kreischen aus wie das Tier am Bett. Dann watschelte er auf Marija zu.


Sie wusste nicht, ob sie schrie. Sie konnte sich selbst nicht hören, ihr Herz pochte viel zu laut. Sie ging rückwärts auf den Gang, bis sie mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand anstieß. Der zweite Vogel kam langsam auf sie zu. Sie sah sich um und floh, einem Impuls folgend, in Richtung Notausgang. Der Vogel hinter ihr beschleunigte seine Schritte. Der Gang war zu schmal, als dass das große Tier hätte fliegen können.


Marija rannte schneller. Sie sah sich nicht mehr um. Vor ihr leuchtete grün das Schild ›Notausgang‹. Sie öffnete die Tür und stolperte eine Feuertreppe hinab in den Garten des Krankenhauses und von dort hinaus auf die Straße. Erst da sah sie wieder zurück.


Der Vogel saß auf dem Geländer der Feuertreppe und schlug heftig mit den Flügeln. Er verfolgte sie nicht mehr.


Sie sah sich um. Entstanden hier aus der Nacht noch mehr dieser Wesen? Sie musste weg. Weit weg. Pjotr und Andjela hatten recht. Es war dumm gewesen, hierher zu kommen. Sie lief zum Hotel. Morgen würde sie aufbrechen. Sofort. Nein, nicht sofort. Erst musste sie Andjela von der Begegnung erzählen. Aber sie würde dieses Gebäude nie wieder in der Nacht betreten.


Sie saß im hell erleuchteten Hotelzimmer und wartete darauf, dass die Nacht vorbeiging. Mit den ersten Sonnenstrahlen stand sie auf und kehrte zum Krankenhaus zurück. Der Vogel auf dem Geländer war verschwunden, die Angestellten im Krankenhaus waren in heller Aufregung. Marija bahnte sich ihren Weg durch die wogende Masse an Ärzten und Schwestern ins Schwesternzimmer. Sie setzte sich auf einen Stuhl und wartete, dass Andjela zu ihrem Dienst auftauchte.


Eine Hand an ihrer Schulter holte sie in die Realität zurück. Sie blinzelte und sah in das Gesicht der Oberschwester.


Andjela lächelte und reichte ihr einen Kaffee. »Was gibt es? So früh schon hier?«


»Ich war gestern nach im Krankenhaus, als die Frau umgekommen ist.« Marija nahm einen Schluck. »Ich habe gesehen, was passiert ist. Es war so unwirklich. Da war ein riesiger dunkler Vogel, er hat seinen Schnabel in die Frau gesteckt und von ihr getrunken. Ein zweiter Vogel kam aus der Wand und hat mich angegriffen, aber ich konnte fliehen. Er hat mich nicht weiter als bis zum Ausgang verfolgt.«
Andjela legte die Stirn in Falten, doch ihr Blick war aufmerksam und keineswegs zweifelnd. »Sie waren sicher wach?«


»Ganz sicher. Die Vögel hatten einen langen Schnabel. Sie waren ungefähr so groß wie Schulkinder und blind. Ihre Köpfe waren ganz nackt.«


Die Oberschwester stellte ihren Kaffee ab, stand auf und holte ein Buch aus einem kleinen Regal neben der Tür. Sie blätterte schweigend darin und gab es schließlich aufgeschlagen an Marija. »Es gibt auf dem Land die Legende, dass die Seelen totgeborener Kinder als Vögel in die Welt zurückkehren. Sie stehlen Milch von säugenden Frauen und säugendem Vieh und töten aus Rachsucht Schwangere. Man nennt sie Navi.«


Marija betrachtete die Illustration in dem Buch. »Das waren die Vögel, ganz sicher.« Sie sah Andjela an. »Man sagt, nur diejenigen, die zur gleichen Stunde wie das tote Kind geboren sind, seien in der Lage, die Navi zu sehen. Vor rund achtundzwanzig Jahren wurden hier Zwillinge geboren. Einer starb bei der Geburt, der andere wenige Stunden später. Damals gab es den Flügel noch nicht, wo heute die Entbindungsstation ist, da war der Friedhof.«


»Und diese Vögel, die ich gesehen habe ...?«


»Waren Navi. Vielleicht.« Andjela seufzte und nahm ihren Kaffee.


Marija widmete sich dem Buch. Tatsächlich waren die Navi Geistwesen aus alten Legenden. Alles, was Andjela ihr erzählt hatte, stand in ähnlicher Weise auch in diesem Buch. Aber konnte es diese Wesen geben, die nur von wenigen Menschen gesehen werden konnten? Warum sollten sie so rachsüchtig sein? Sie sah auf.


Andjela zuckte mit den Schultern. »Sie wollten Leben. Vielleicht ist es keine Rache, vielleicht ist es nur der verzweifelte Versuch, zu leben.«


»Wie kann man sie aufhalten?«


»Eine Seele verlässt den Raum durch ein Fenster und findet durch Feuer zum Himmel. Mit der zeit hat man hier in der Gegend keine Leichen mehr verbrannt, vor allem nicht die von Säuglingen. Die Eltern wollten es nicht. Mit Sicherheit liegen hier irgendwo unter dem Krankenhaus die Überreste der Zwillinge.«


»Dann müssen wir sie verbrennen.« Marija klappte das Buch zu und gab es an die Oberschwester zurück.


»Und wie stellen Sie sich das vor? Das Krankenhaus steht auf dem Friedhof.«


Marija seufzte. Sie stand auf und ging in das Hotel zurück. Andjela hatte recht, man konnte nicht einfach das Krankenhaus anzünden. Ob man dem Direktor von den Navi erzählen konnte? Würde er es glauben? Sie schüttelte für sich selbst den Kopf. Nein, man musste anders vorgehen. Sie musste einen guten Plan fassen. Vielleicht half die Idee mit der Sekte weiter.


Am Nachmittag hatte sie sich entschieden. Sie nahm das Telefon in ihrem Hotelzimmer und rief Pjotr an. »Pjotr? Ich bin’s, Mari. Ja, mir geht es gut. Ich brauche deine Hilfe.«


Sie schwieg einen Moment. »Ich will, dass du in Belgrad bei der Polizei anrufst. Du musst einen anonymen Hinweis abgeben, dass eine Sekte einen Anschlag auf das Krankenhaus geplant hat, in dem ich arbeite. Sie wollen das Gebäude mit einer Bombe in die Luft sprengen. Die Polizei soll schnellstmöglich alle Patienten aus dem Gebäude schaffen und das Personal warnen. Ich erkläre dir die Sache, wenn ich wieder zu Hause bin. Tu mir den Gefallen, ja? Ich liebe dich.«


Sie kehrte ins Krankenhaus zurück und verließ es nicht mehr, bis die Polizei aus Belgrad eintraf und das Gebäude räumen ließ. In der allgemeinen Hektik setzte sie sich ab und verschwand in den Keller, in den Raum, wo die Putzutensilien lagen. Sie suchte nach Verdünner und alten Besen und Handfegern aus Holz und Tierhaar, die sich gut anzünden ließen. Anschließend brachte sie alles in einen abgelegenen Raum, stapelte die Besen und setzte es in Brand. Sie rannte aus dem Gebäude und schloss sich den flüchtenden Patienten und Kollegen an. Auf dem Hof entfernte sie sich erneut aus der Gruppe und legte Feuer an die Blumenbeete. Es dauerte eine Weile, bis aus den Schwelbränden richtige Flammen wurden. Marija wartete, bis die Polizei die Feuerwehr alarmiert hatte und beobachtete währenddessen die Flammen. Unter all dem Knacken und Knistern glaubte sie, ein gellendes Schreien zu hören. Die Navi konnten den Weg in den Himmel finden. Vielleicht. Wenn das Feuer stark genug war.

11 Juni 2023

Der Antipode

 Sie sah erst auf die große Bahnhofsuhr, dann auf ihre Armbanduhr und zuletzt auf ihr Handy. Der Bus war heute tatsächlich pünktlich gewesen und sie hatte noch Zeit, vor der Abfahrt ihres Zuges in den Bahnhofskiosk und zum Bäcker zu gehen. Die neueste Reiterzeitschrift, um unterwegs zu lesen und zwei Schokobrötchen und eine Flasche Cola, um das viel zu karge Frühstück auszugleichen.


Sie konnte sich auch für die halbe Stunde vor der Abfahrt schon in den Zug setzen und ein wenig vor sich hindösen oder vielleicht sogar schlafen. Schlafen kostete weniger Geld und hatte weniger Kalorien als Zeitschriften und Schokobrötchen. Sie betrachtete den Zug, die Türen standen offen. Sie entschied sich dafür, einzusteigen und aus dem Fenster zu starren oder in ihrem Buch zu lesen, und hielt mit großen Schritten auf das Abteil zu. Die rote Lokomotive ließ zischend Luft ab, als Anette auf einer Höhe mit der Fahrertür war. Sie erschrak nicht, sie hatte immer das Glück, dass solche Dinge genau neben ihren Ohren passierten. Sie hörte das Geräusch kaum, welches für den Augenblick alle nahen Gespräche übertönte.


Sie trat an die Tür des Doppelstockwagens und drückte auf den Knopf, die beiden Flügel glitten auseinander, aus dem Lautsprecher ertönte ein nervtötendes Klingeln, um alle Leute zu informieren, dass nun die Tür offen war. Anette schüttelte den Kopf und setzte einen Fuß auf die Treppe, die ins Innere des Wagens führte. Dabei fielen ihr einige weiße Fußspuren auf, die aus dem Zug hinausführten. Jemand schien im Vorraum in weiße Farbe oder zumindest in Joghurt getreten zu sein. Vermutlich war er an der Station vor ihrem Bahnhof ausgestiegen, die Spuren waren kräftig und schienen frisch.


Sie schüttelte erneut den Kopf. Dass die Leute nicht in der Lage waren, im Zug zu essen. Immer lagen irgendwo Essensreste herum oder es waren irgendwelche Flecken auf dem Boden oder den Polstern. Vielleicht hatte auch jemand absichtlich Joghurt ausgekippt, irgendeine vandalische Mutprobe unter den ach so coolen Jugendlichen. Die Kinder heutzutage hatten einfach nichts mehr zu tun und kein Benehmen noch dazu. Es war wie in dieser japanischen Fernsehserie, wo ein paar Schuljungen einem Yakuza-Boss versuchten, zu erklären, wie das Leben als Gangster funktionierte. Zumindest als das, was sie dafür hielten. Sie kicherte und ging auf die Treppe zu, die vom Vorraum in die untere Wagenhälfte hinabführte.


Sie saß mit Vorliebe hier unten, wo das Dach nicht so niedrig und die Außenwände gerade waren. Vorzugsweise auf einem ganz bestimmten Platz im hinteren Drittel des Wagens. Sie konnte sehr unausgeglichen werden, wenn alle ihre Lieblingsplätze von anderen Fahrgästen belegt waren, insbesondere dann, wenn die anderen Leute die Auswahl zwischen allen Sitzen des Abteils hatten. Vermutlich mochten andere Leute diesen Platz auch sehr gerne, trotzdem fühlte sich Anette persönlich angegriffen, wenn sie nicht dort sitzen konnte. Heute galt ihre Aufmerksamkeit allerdings nicht der Suche nach dem richtigen Platz.


Die weißen Fußspuren kamen aus dem unteren Abteil. Sie führten vom Gang die Treppe hinauf und zur Tür. Anette bereitete sich im Geiste darauf vor, irgendwo in diesem Abteil eine weiße Pfütze aus Molkereiprodukten vorzufinden, vorzugsweise vor dem Sitz, den sie für sich ausgewählt hatte. Sie folgte den Spuren die Treppe hinab und blieb neben dem einzelnen Stuhl am Fuß der Treppe stehen.
Sie starrte auf die Spuren. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musterte die Fußabdrücke eine Weile, ehe ihr auffiel, was an ihnen so unwirklich war. Die Zehen deuteten in Richtung der Wagentür, jemand war also aus dem Abteil herausgegangen. Die Spuren begannen irgendwo in diesem Abteil und ihr Verursacher war durch die Tür ausgestiegen, durch welche Anette in den Zug gekommen war. Aber wenn die Joghurtpfütze irgendwo im Abteil lag, mussten die Spuren vom Abteil zur Tür hin blasser werden, doch das Gegenteil war der Fall. Je näher die Abdrücke der Tür waren, desto kräftiger waren sie auch.


Anette legte die Stirn in Falten. War irgendjemand rückwärts in den Zug eingestiegen und rückwärts zu seinem Platz gegangen? Warum sollte jemand so etwas vollkommen unsinniges tun? Sie zog sich an der Unterlippe, schüttelte den Kopf und beschloss, den Spuren bis zu der Stelle zu folgen, an der sie sich verloren. Ihre Fantasie übernahm währenddessen die Kontrolle über ihren ansonsten ehr rationalen Verstand. Vielleicht handelte es sich bei dem Verursacher der Spuren um einen Kriminellen, der allen Leuten Glauben machen wollte, er habe den Zug verlassen statt betreten? Vielleicht verbarg sich ein Killer in der Gepäckablage über den Sitzen. Ihr Blick glitt an der Wand entlang nach oben. Nein, in diese Gepäckablage würde kein erwachsener Mensch hineinpassen. Nicht einmal ein Kleinwüchsiger mit Knochen aus Gummi. Selbst ihr eigener Rucksack, in dem sich nur ein Buch, ein Block, eine Flasche mit Wasser und einige Stifte befanden, war gerade noch schmal genug, um dort verstaut werden zu können. Sie musste über ihre eigenen Gedanken kichern. Ein Killer in der Gepäckablage. Selbst Hollywood würde nicht auf eine so dumme Idee kommen.


Die Spuren führten an dem Platz vorbei, welchen Anette als ihr Eigentum betrachtete. Sie legte ihre dünne Jacke und ihren Rucksack dort ab, um den Platz schon einmal für sich zu beanspruchen, ehe sie sich weiter umsah. Die Abdrücke waren hier sehr blass und nur noch teilweise vorhanden. An einem Platz schräg gegenüber von ihrem eigenen, in Richtung der anderen Wagentür, endeten sie abrupt. Der Platz war leer.


Sie sah unwillkürlich zur Gepäckablage hinauf, die ebenfalls leer war. Sie schnaubte und schüttelte den Kopf. Was hatte sie erwartet? Al Pacino mit einer Uzi, auf der Lauer nach abtrünnigen Untergebenen? Sie stand in einem Zug, nicht am Set eines Gangsterfilms. Sie sah noch einmal zu dem Platz, ging darauf zu und betastete das Polster. Es hatte dieselbe Temperatur wie alles andere in diesem Zug, n den letzten Minuten hatte also niemand hier gesessen. Außerdem lagen weder Jacke noch Taschen auf dem Sitz oder in der Gepäckablage. Niemand schien den Platz beansprucht zu haben. Vielleicht war der Fahrgast doch vorher ausgestiegen. Aber warum wurden die Spuren dann zur Tür hin kräftiger?
Anette biss die Zähne aufeinander und zog eine Grimasse, dabei ging sie auf ihren eigenen Platz zurück. Sie zog ein Buch aus der Tasche und begann, zu lesen. Dabei verlor sie jedoch immer wieder ihre Konzentration. Sie sah sich über die Schulter nach dem Platz um, vielleicht war der Fahrgast mit den dreckigen Schuhen ja nur auf der Toilette. Vielleicht kam er wieder. Vielleicht hatte er sich seine Schuhe gesäubert. Sie lachte.


Der Zug setzte sich in Bewegung, ratterte aus dem Bahnhof und nahm Fahrt auf. Ein Schaffner patrouillierte durch das Abteil und kontrollierte die Fahrkarten der wenigen Gäste. Anette legte das Buch zur Seite und zeigte ihren Studentenausweis, der gleichzeitig als Fahrkarte für ihre tägliche Strecke diente. Sie sah an dem Zugbegleiter vorbei auf den leeren Platz schräg hinter ihr. Der Schaffner setzte seinen Rundgang fort, ohne dass seine Füße den weißen Flecken auswichen. Er beachtete den leeren Platz nicht, vor dem die Spuren endeten.


Anette hob eine Hand. »Entschuldigung?«


Der Schaffner blieb stehen und sah sich zu ihr um. »Was kann ich für Sie tun?«


»Wissen Sie, ob vorhin jemand auf dem Platz gesessen hat?«


Der Schaffner folgte mit seinem Blick ihrer Geste auf den leeren Platz. Er zuckte mit den Schultern. »Sicher. Zwischen Höchst und Camberg ist der Zug immer voll. Warum fragen Sie? Haben Sie etwas verloren?«


»Das nicht. Ich wollte nur, ähm.« Sie tippte sich mit dem Finger an die Lippen und sah auf die Fußspuren. »Wegen der Flecken auf dem Boden.«


»Welche Flecken?«


»Schon gut.« Anette winkte ab. »Ist nicht so wichtig. Schmutzige Schuhe passieren eben, nicht wahr?«
Der Schaffner sah sie verwirrt an, wandte sich ab und setzte seine Runde fort. Der Zug hielt an der nächsten Station, etliche Leute strömten ins innere des Wagens, doch der Platz blieb noch immer leer.
Ob sich der Rückwärtsgeher vor dem Schaffner auf der Toilette versteckte? Dann war der Gedanke eines Kriminellen nicht ganz so abwegig. Vielleicht kein so großer Krimineller wie ein Auftragskiller oder ein Mafioso, aber immerhin, Schwarzfahren war eine Art Unterschlagung und damit eine kriminelle Handlung. Auf dem Niveau der japanischen Möchtegern-Yakuza aus dieser Serie. Mit einem großen wirtschaftlichen Schaden für den öffentlichen Nahverkehr, die Bahn und alle anderen Fahrgäste.
Sie sah aus dem Fenster und gähnte. Der Zug verließ den Bahnhof, der kleine Ort zog vor ihrem Blick vorbei, ihm folgen Felder und bewaldete Hügel. Auf einem Hügel erhoben sich noch immer die Skelette der Sonnenblumen des letzten Jahres. Es gab kaum einen beklemmenderen Anblick, als die toten, graubraunen Stängel abgestorbener mannshoher Pflanzen.


Sie blinzelte einige Male. Von allem, was sie bisher in ihrem Leben erlebt hatte, war diese Spuren die mit Abstand seltsamste Begebenheit. Vor allem, weil der Verursacher der Spuren nicht zu existieren schien. Ein Geräusch durchbrach ihre Gedanken, sie sah sich um. Klopfte der Schaffner an die Toilettentür oder bildete sie sich den Ton nur ein? Der Platz war noch immer leer. Auf dem Boden davor waren blasse Fußspuren. Sie lauschte angestrengt. Im Abteil war es still, niemand klopfte an irgendwelche Türen.


Anette nahm ihren MP3-Player hervor, setzte die Kopfhörer auf und hörte Musik. Sie sah wieder aus dem Fenster. Ihre Augen brannten. Nur einen Moment die Lider schließen, damit sich die trockenen Augen erholen konnten.


Sie schloss die Augen. Ihre Musik war leise genug, dass sie das Rattern der Räder durch sie hindurch hören konnte. Ein gleichmäßiges, beruhigendes Geräusch. Sie presste die Unterschenkel an die Rückenlehne vor ihr und kuschelte sich in das Polster ihres Sitzes. Sie hatte die Musik immer so leise, dass sie alle anderen Geräusche durch sie hindurch hören konnte. So wusste sie, dass sie niemanden mit der Musik störte. Außerdem fühlte sie sich sicher, wenn sie noch etwas von ihrer Umgebung mitbekam.
Etwas knackte und knarzte, das Abteil schaukelte heftig hin und her. Anette erwachte aus ihrem flachen Schlaf. Wie viele Stationen hatte sie schon verschlafen? Wo waren sie? Warum war sie wach? Die Durchsage? Nein, eher nicht. Vielleicht die Rückenschmerzen, die die seltsame Haltung verursacht hatte oder das eingeschlafene Bein. Sie gähnte, setzte sich aufrecht hin und streckte die Arme von sich. Sie sah aus dem Fenster. Die Schilder des vorletzten Bahnhofs vor der Endstation zogen vornüber. Sie stockte. Irgendetwas beobachtete sie. Sie konnte die Blicke deutlich spüren.


Sie griff nach ihrem Buch, welches von ihren Beinen gerutscht war und auf dem Boden des Abteils lag, dabei sah sie sich verstohlen um. Sie konnte die weißen Fußspuren auf dem Boden sehen und schlagartig kamen ihre Gedanken vom Anfang der Fahrt zurück. Al Pacino als Schwarzfahrer im Gepäcknetz der Zugtoilette.


Sie kicherte, nahm ihr Buch und wollte es in den Rucksack stecken, doch sie hielt inne. Sie sah auf den Platz zwei Sitze schräg hinter ihrem. Ihr Herz raste, sie zitterte. 


Für einen Moment war es, als höre die Welt auf zu existieren und es gab nur noch sie und das Wesen auf dem Sitz schräg hinter ihrem und selbst diese letzten Überlebenden der großen Auslöschung befanden sich schon im Vergehen. Ihre Wahrnehmung endete um den Fremden herum. Die Welt war schwarz-weiß und grobkörnig, wie ein alter Film.


Sie presste die Augen zusammen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn. Sie öffnete sie langsam wieder, blinzelte einige Male und sah auf.


Das Wesen saß noch immer dort auf dem Platz schräg gegenüber von ihrem eigenen. Es hatte eine eindeutig menschliche Gestalt und sah einem ihrer Professoren sehr ähnlich, mit dunklem Haar, der kleinen, viereckigen Brille und dem freundlichen Lächeln. Doch etwas war anders, fremdartig und nicht normal. Sie konnte noch nicht genau sagen, was es war, aber sie wusste, dass es die Beine des Wesens sein mussten.


Es sah sie an.


Sie erwiderte den Blick, um nicht auf seine Beine zu starren, hatte jedoch nicht lange Erfolg damit. Ihre Augen wichen immer wieder vom Gesicht des Wesens ab zu seinen Beinen. Diese waren im spitzen Winkel an die Rückenlehne des Sitzes vor dem Wesen gepresst, wie ihre eigenen zuvor, als sie geschlafen hatte. Doch die Füße der Gestalt hingen nicht hinab. Sie zeigten nach oben. Was auch immer dort saß und Anette anlächelte, hatte seine Knie nach hinten gedreht.


Nicht nur die Knie.


Anette musterte die Beine, blickte dem Wesen ins Gesicht und sah wieder zur Seite. Auch die Füße der Gestalt waren verdreht. Die Sohlen zeigten zur Decke, die Zehen jedoch nicht zu seinem Gesicht, sondern zum Sitz vor ihm. Es sah aus, als ob jemand hingegangen war, dem Wesen die Unterschenkel samt Knie abgenommen und verkehrt herum wieder eingepflanzt hatte.


Sie blinzelte einige Male verwirrt, dann sah sie wieder auf.


Das Wesen saß noch immer auf seinem Platz und lächelte sie freundlich an.


Anette kratzte sich an der Nase. War das eine anerkannte Behinderung oder bildete sie sich das alles nur ein? Schlief sie am Ende noch? Hatte man in Träumen solche tief gehenden Gedanken? Diese Spuren hatten sie tiefer beeindruckt, als sie gedacht hatte. So musste es sein. Sie träumte und ihr Gehirn versuchte, sich einen Reim auf diese vermaledeiten Fußspuren zu machen.


Das Wesen hob eine Hand und winkte ihr zu. Offensichtlich suchte es Kontakt. Zumindest nahm es ihr das Starren nicht ernst.


Sie schüttelte den Kopf.


Der Zug bremste heftig und kam unter einer Brücke zum Stehen.


Anette hatte nicht mit dem Stopp gerechnet. Sie fiel nach vorne und musste sich mit den Händen abfangen, um nicht mit dem Kopf gegen die Rückenlehne des Vordersitzes zu prallen. Sie richtete sich wieder auf und sah aus dem Fenster, um den Grund des plötzlichen Halts auszumachen. Sie konnte nichts sehen. Vielleicht hatte der Fahrer ein Signal zu spät gesehen. Sie waren in der Nähe des letzten Bahnhofs, die Gleise dort waren zu jeder Zeit von irgendeinem Zug belegt. Sicher hatte der Fahrer ihrer Bahn das Signal übersehen, vielleicht gehörte er auch zu der Gruppe Menschen, die der irrigen Ansicht waren, dass Bremsen etwas für Verlierer sei. Sie zuckte mit den Schultern. Ob sich das Wesen mit den seltsamen Beinen etwas getan hatte? Sie drehte sich herum.


Der Platz war leer, wie zu Beginn der Fahrt. Das Wesen war verschwunden, wenn es jemals da gewesen war.


Anette sah auf den Gang. Die Fußspuren hatte sie sich nicht eingebildet. Sie führten noch immer vom Sitz zur Tür oder rückwärts in die andere Richtung. Ein Wesen mit den Knien hinten konnte sie verursacht haben.


Oder Al Pacino, der sein Einsteigen verbergen wollte und sich nun mit einer Uzi auf der Zugtoilette vor dem Schaffner versteckte und darauf wartete, in der Endstation unbemerkt in der Masse aussteigen zu können. Damit niemand sein Schwarzfahren bemerkte.

04 Juni 2023

Geisterjagd

 Wir hatten zusammen einigen grenzwertigen Blödsinn angestellt, Nina und ich, aber ich glaube, dass die Sache mit der Domäne Blumenrod das mit Abstand spektakulärste Bubenstück war. Wir waren, wie alle Teenager, auf Abenteuer aus und was lag näher, als ein verfluchtes Haus zu untersuchen?
Nina hatte Geschichten über Geister in der Domäne aufgeschnappt, immer wieder erzählt und weiter ausgeschmückt. Das Gebäude war baufällig, mehrere Firmen hatten sich angeblich an der Renovierung versucht, und waren gescheitert. Angeblich weil jemand oder etwas die Bauarbeiten behinderte. Dabei war erst von Einbrechern die Rede, dann von Obdachlosen, Sekten, Geistern und schließlich Dämonen. Als die Geschichte nicht mehr zu steigern war, entschlossen wir uns, dem Ganzen selbst auf den Grund zu gehen.


Wir beobachteten das Gebäude über mehrere Tage von unserer Seite des maroden Bauzauns aus, sammelten alle möglichen Gerüchte, lasen die Warnschilder und den Hinweis auf Denkmalschutz am Zaun und versuchten herauszufinden, ob Arbeiter die Baustelle betraten oder nicht. Zu unserer Überraschung war tagsüber nie jemand zu sehen.


Schließlich kam die große Nacht. Wir hatten uns mit grünem Tee und Kaktusfeigensaft, der damals bei uns groß angesagt war, wach gehalten. Ninas Eltern waren nicht zu Hause, ihr kleiner Bruder schlief oder war mit seiner Playstation beschäftigt. Wir beiden Teenagermädchen waren allein und hatten in dieser Nacht alle Freiheiten. Und das nötige Wissen um die Domäne. Es gab außer dem Gerücht keine allgemein bekannten Spukgeschichten über den Ort. Offenbar lag die Baustelle einfach nur brach, was uns sehr entgegenkam. Denn auf einer leerstehenden Baustelle würde uns niemand sehen.


Wir packten uns jeder ein Trinkpäckchen mit Kaktusfeigensaft in die Taschen, schnappten uns unsere Jacken und eine Taschenlampe und legten den kurzen Weg von Ninas Haus zu der Domäne zurück. Dort angekommen quetschten uns durch eine Lücke im Bauzaun, die uns bei unseren vorherigen Besuchen nicht aufgefallen war. Irgendjemand musste den Zaun an der Stelle verrückt haben, um selbst auf die Baustelle zu gelangen.


Vom Bauzaun aus gelangten wir in eine Art Säulengang, von dem Nina erklärte, dass es sich um den ehemaligen Stalltrakt handelte. Vor uns lag im Restlicht der Straßenlaternen der breite Gang und dahinter der Hof der Domäne. Wir huschten durch die Bogengänge, immer darauf bedacht, im Schatten zu bleiben, und erreichten einen Graben, der die ehemaligen Stallungen vom Hof abtrennte. Auf der anderen Seite konnten wir deutlich das alte Pächterhaus erkennen. Nicht wegen des Mondlichts, sondern weil in einem der Fenster Lich brannte. Mit dem Licht hatten wir einen starken Hinweis, dass es ich bei den mysteriösen Gestalten zumindest nicht um Gespenster handelte.


Während mich die Erkenntnis, es mit Menschen zu tun zu haben, eher beruhigte, bewirkte sie bei Nina das Gegenteil. »Vielleicht sollten wir das Ganze sein lassen und heimgehen? Ich meine, wenn da wirklich ein Psychopath oder ein Satanist wohnen?«


Ich schnappte mir die Taschenlampe aus Ninas Jackentasche und deutete auf den Hof. In mir war die Detektivader wieder erwacht, die sich seit meiner Mickey-Maus-Zeit versteckt gehalten hatte. »Wenn mir jemand was will, kann ich ihm damit eins überziehen. Du bleibst hier und wartest, ich gehe nachsehen, wer da in dem Gebäude ist!«


Nina wich zögerlich in den Schatten einer Säule zurück. Wir kannten uns lange genug, dass sie meinen Sturkopf nicht infrage stellte.


Ich umklammerte die Taschenlampe, schlich aus dem Stalltrakt heraus, kletterte in den Graben hinab und auf der anderen Seite wieder raus und sah mich dann auf dem großen Innenhof um.
Es waren mehrere Meter bis zum Wohngebäude, schwer zu schätzen, wie weit genau. Allerdings sah ich im Mondlicht, dass eine Tür neben dem Fenster angebracht war. Ich konnte den beleuchteten Raum also problemlos erreichen.


Ich duckte mich und ging mit großen Schritten auf die Tür zu. Damals war ich überzeugt, dass alle großen Detektive und Einbrecher denselben Laufstil haben mussten, um nicht gesehen zu werden. Ich hatte vielleicht die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht und war gerade dabei, im Windschatten des Wohngebäudes nach Deckung zu suchen, als das Hoflicht aufflammte.


»Der Mörder!«, brüllte Nina aus dem Stallgebäude.


»Scht!«, machte ich, richtete mich aber auf und rannte in ihre Richtung. Als ich den Stall deutlich sehen konnte, hechtete ich darauf zu, landete jedoch am Hang des Grabens. Ich rollte mich über die Schulter ab, ein Manöver, von dem ich nicht wusste, dass ich es noch beherrschte, richtete mich auf und krabbelte in den Stall. Erst dort angekommen, wandte ich mich um und sah über den Hof, ob der psychopathische, untote Mörder mir gefolgt war. In dem Moment hatte ich allerdings mehr Angst vor der Schelte, weil wir in ein fremdes Gebäude eingedrungen waren als um mein Leben.
Das Licht im Fenster brannte noch immer, ansonsten war dort nichts zu sehen. Rechter Hand verschwand eine Katze im Schatten eines weiteren Gebäudeteils.


Ich schüttelte den Kopf. »Das war bloß eine streunende Katze. Was für ein Blödsinn. Dabei war ich fast an der Tür. Los, lass es uns nochmal versuchen!«


»Du spinnst doch total! Wir sollten gehen, bestimmt kommt der Typ da gleich raus und bringt uns um die Ecke!«


»Ich glaube nicht, dass das Mörder sind.« Ich zuckte mit den Schultern, gab aber Ninas Willen nach. Vielleicht war es eine bessere Idee, abzuwarten, bis niemand auf dem Gelände war. Wir kehrten zu ihr nach Hause zurück.


Einige Wochen später wollten wir einen neuen Versuch wagen, doch der Bauzaun war mittlerweile vollständig ersetzt und bot keine Lücken mehr, durch die man in das Gebäude hätte vordringen können.
Die Domäne befand sich damals schon im Besitz einer ehrenamtlichen, evangelischen Stiftung und wurde von Helfern in deren Freizeit renoviert. Vielleicht war es gut, das damals nicht zu wissen. So hatten wir wenigstens ein kleines Detektiv-Abenteuer erlebt, auch wenn es nicht erfolgreich war.