18 Juni 2023

Navi in Belgrad

 »Pjotr! Sie haben geantwortet! Ich kann sofort anfangen!« Marija wedelte mit dem Brief vor der Nase ihres Verlobten herum.


Pjotr nahm ihr Handgelenk und drückte es sanft herunter. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch der Meinung, dass an diesem Krankenhaus etwas nicht stimmt. Der Lohn ist zu hoch und sie bezahlen dir sogar das Hotel, damit du in der Probezeit in der Nähe wohnen kannst. Ich bitte dich.«


»Du bist ein Griesgram. Freu dich lieber. Das ist die beste Stelle, die ich als Kinderärztin überhaupt bekommen kann.«


»Vielleicht. Wenn du denn in dem Krankenhaus überhaupt noch Patienten haben wirst. Ist das nicht diese Säuglingsklinik mit Entbindungsstation? Wo in den letzten Wochen immer wieder Schwangere gestorben sind?«


Marija seufzte, legte den Brief auf dem Tisch ab und setzte sich. Sie sah Pjotr tief in die Augen. »Ja, das ist die Klinik. Sie hatten ein paar Unglücksfälle in der letzten Zeit. Das kann in jeder Klinik passieren. Ich werde mir die Klinik jedenfalls ansehen. Du weißt, dass wir kein Geld haben, damit ich eine eigene Praxis aufmachen kann. Ich werde nach dem Essen packen und nach Belgrad fahren.«


»Wann kommst du wieder?«


»Mal sehen, wann ich frei habe. Wenn ich die Stelle behalte, müssen wir umziehen, irgendwann.«
»Wenn du die Stelle behältst. Nicht, dass ich sie dir nicht gönne, aber ich habe ein ganz schlechtes Gefühl dabei.«


»Du bist blöde.« Marija lachte und griff nach der Milchflasche.


Nach dem Frühstück stand sie auf und ging ins Schlafzimmer, um die nötigen Sachen zusammen zu packen. Die Klinik bezahlte ihr ein Hotel inklusive Essen und Ausgaben für Wäscherei. Vermutlich ging dies von ihrem Einstellungsgehalt ab, aber das war Marija egal. Auf diese Weise entfiel die leidige Suche nach einer Wohnung in dem Belgrader Vorort, in dem sich die Klinik befand. Sie verabschiedete sich von ihrem Verlobten und fuhr zu ihrem Hotel, wo sie die Koffer abstellte und sich sofort wieder auf den Weg machte. Diesmal fuhr sie zu ihrer neuen Arbeitsstelle.


Die kleine Klinik lag nicht wiet von dem Hotel entfernt. Vermutlich war es für die Eltern der kranken Babys gebaut worden oder für die Männer der Frauen, die hier auf ihre Entbindung warteten. Das Gebäude selbst war neu und luftig und erstaunlich leer. Marija ging an den Empfangstresen und stellte sich vor, um kurz darauf mit dem Leiter des Krankenhauses zu sprechen. Anschließend wurde sie von einer kräftigen Frau abgeholt und durch das Gebäude geführt.


»Ich heiße Andjela, es ist schön, Sie kennenzulernen, Frau?«


Marija winkte lächelnd ab. »Nennen Sie mich Marija. Sie sind die Oberschwester?«


»Ja. Ich bin für die Entbindungsstation zuständig. Leider sind Sie zu einem schlechten Zeitpunkt hier angekommen, Marija. Das Krankenhaus stirbt.«


»Es stirbt? Ist das nicht etwas dramatisch ausgedrückt?«


»Keineswegs.« Andjela blieb stehen. Sie wandte sich zu Marija um, sah jedoch an ihr vorbei. »Vielleicht haben Sie es in der Zeitung gelesen? In unserem Krankenhaus sterben Frauen, Wöchnerinnen und Schwangere. Deshalb kommen immer weniger Frauen zur Entbindung hierher. Viele bringen auch ihre Kinder lieber in ein anderes Krankenhaus. Wenn das so weitergeht, müssen wir zu machen.«


»Ich habe von den Fällen gehört. Was genau ist passiert?«


»Die Kollegen reden von einem Fluch, nicht, dass ich das glauben würde. Ich bin nicht abergläubig. Sind Sie abergläubig?«


Marija schüttelte den Kopf.


Andjela seufzte. »Die Frauen sterben nachts. Sie legen sich am Abend zuvor in ihr Bett und schlafen, am nächsten Morgen sind sie tot. Wir Schwestern finden sie im Bett in einer Blutlache liegen. Es sieht aus, als hätte sie irgendjemand mit einem langen, scharfen Gegenstand in den Uterus gestochen und sie dann verbluten lassen. Außerdem wurden die Frauen gemolken.«


»Warum sollte jemand so etwas tun?« Marijas Augen weiteten sich vor Entsetzen.


Die Oberschwester zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht sind es Konkurrenten unserer Klinik, wer weiß das schon? Viel seltsamer sind die Vorfälle, wenn sie eine Hochschwangere betreffen. Den Toten fehlt das Fruchtwasser und der Fötus ist ebenfalls verblutet.«


»Was? Warum sollte jemand das Fruchtwasser stehlen?«


»Das verstehen wir auch nicht. Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass es sich um eine krude Sekte handelt. Es gibt doch mittlerweile alle möglichen organisierten Verrückten. Vielleicht glauben sie, dass das Fruchtwasser ihnen ewiges Leben verleiht oder sie beten einen Gott in Form eines Neugeborenen an, was weiß ich. Die Regierung sollte wirklich etwas dagegen tun.« Andjela griff an das kleine Kruzifix an ihrem Hals und umschloss es mit der Hand.


Marija presste ihre Lippen zusammen. »Das klingt alles sehr merkwürdig.«


»Das ist es auch. Ich an Ihrer Stelle würde gar nicht erst anfangen, hier zu arbeiten. Gehen Sie zum Chef zurück und sagen Sie ihm, dass Sie es sich anders überlegt haben. Fahren Sie nach Hause zurück und kommen Sie besser nicht mehr hier her.«


»Das ist doch lächerlich.« Marija machte eine heftige Geste. »Nein, ich werde hierbleiben. Ganz gleich, ob es ein Fluch ist, eine Sabotage oder eine Sekte. Das wird auch wieder vorbeigehen.«
Und Marija blieb. Sie lebte in dem kleinen Belgrader Vorort in ihrem Hotel und verbrachte viel Zet im Krankenhaus. Sie bemühte sich, die Frauen und Kinder kennenzulernen und ein gutes Verhältnis mit ihren Kollegen aufzubauen. Seit sie in der Klinik angefangen hatte, hatte es noch keinen Vorfall gegeben. Dennoch ließen Marija die Gedanken an die Geschichte nicht los, die Andjela ihr erzählt hatte.


Sie beschloss, nach der nächsten Spätschicht im Krankenhaus zu bleiben und sich nächtens dort umzusehen. Irgendwo mussten sich doch Hinweise auf die Vorgänge finden lassen. In ihrer ersten Woche hatte man ihr noch keine Nachtschichten zugeteilt, wodurch sie die Klinik noch nie bei Dunkelheit betreten hatte.


Sie beendete ihre Schicht und setzte sich anschließend in einen kleinen Aufenthaltsraum, wo sie zwei Tassen Kaffee trank. Sie beobachtete die fortschreitende Dunkelheit durch das Fenster und als es dunkel genug war, stand sie auf und ging durch die Gänge.


Das Krankenhaus lag vollkommen still da, Marija konnte ihre Schritte und ihren Atem hören. Die Notlichter auf den Fluren waren die einzige Beleuchtung, doch auch sie konnten die Dunkelheit nicht fernhalten. Überall herrschte Zwielicht. Sie passierte das Schwesternzimmer, aus welchem gedämpftes Reden auf den Gang hinaus klang und für einen Moment Marijas Schritte übertönte. Dann waren die Frauen außer Hörweite und die junge Ärztin war wieder mit sich und der Stille allein.


Eine der Lampen auf dem Gang flackerte. Marija blieb stehen und sah dem unruhigen Hell-Dunkel zu, bis sich das Licht wieder gefangen hatte und blass gegen die Nacht ankämpfte. Sie ging weiter. Aus einem der Zimmer drang ein Geräusch wie das Flügelschlagen eines flatternden Vogels. Sie blieb stehen und lauschte. Etwas kratzte hinter der Tür über den Boden, hielt inne und schrei dann gell auf. Das Geräusch zerriss die allgegenwärtige Stille mit einer viel zu hohen Frequenz. Marija konnte das Gekreisch kaum hören, vielmehr spürte sie es in ihren Knochen. Es war ein Gefühl, als ob jemand eine Gabel über ihre Wirbelsäule ziehen würde. Sie schüttelte sich, stürmte in das Zimmer, aus welchem das Geräusch kam, und erstarrte beim Anblick dessen, was darin geschah.


Ein Vogel, etwa so groß wie ein fünfjähriges Kind, kauerte vor dem Fußende des einzigen belegten Bettes. Er hatte seinen langen Schnabel in den Unterleib der Frau gesteckt, die das Zimmer bewohnte, und schien genüsslich aus ihrer Gebärmutter zu trinken. Seine dunklen Federn spiegelten fahl das Notlicht vom Gang wieder, als seien sie aus einem glänzenden Metall gefertigt. Sein Kopf war kahl wie der eines Geiers und mit kaltem Entsetzen stellte Marija fest, dass das Wesen keine Augen besaß.
Marija zitterte, ihr war kalt und ihr Mund war vollkommen trocken. Gleichzeitig spürte sie, wie Schweiß auf ihre Stirn trat. Sie taumelte einen Schritt zurück, wollte fliehen, doch sie wagte es nicht, dem Wesen den Rücken zuzudrehen. Das leise Schmatzen, mit dem der Vogel die Frau aussaugte, jagten Marija Gänsehaut über den Rücken. Im Augenwinkel sah sie eine Bewegung hinter dem Vorhang. Sie wandte den Kopf langsam ab, so, dass sie den Vogel am Bett noch sehen konnte.
Neben dem Fenster zog sich ein Schatten aus der Wand heraus. Langsam nahm er Form in den Raum hinein an. Ein Schnabel wuchs aus der Dunkelheit, dann ein Kopf und ein gefiederter Körper. Ein zweiter Vogel stand neben dem Vorhang, schüttelte sich und sandte dasselbe knochenschindende Kreischen aus wie das Tier am Bett. Dann watschelte er auf Marija zu.


Sie wusste nicht, ob sie schrie. Sie konnte sich selbst nicht hören, ihr Herz pochte viel zu laut. Sie ging rückwärts auf den Gang, bis sie mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand anstieß. Der zweite Vogel kam langsam auf sie zu. Sie sah sich um und floh, einem Impuls folgend, in Richtung Notausgang. Der Vogel hinter ihr beschleunigte seine Schritte. Der Gang war zu schmal, als dass das große Tier hätte fliegen können.


Marija rannte schneller. Sie sah sich nicht mehr um. Vor ihr leuchtete grün das Schild ›Notausgang‹. Sie öffnete die Tür und stolperte eine Feuertreppe hinab in den Garten des Krankenhauses und von dort hinaus auf die Straße. Erst da sah sie wieder zurück.


Der Vogel saß auf dem Geländer der Feuertreppe und schlug heftig mit den Flügeln. Er verfolgte sie nicht mehr.


Sie sah sich um. Entstanden hier aus der Nacht noch mehr dieser Wesen? Sie musste weg. Weit weg. Pjotr und Andjela hatten recht. Es war dumm gewesen, hierher zu kommen. Sie lief zum Hotel. Morgen würde sie aufbrechen. Sofort. Nein, nicht sofort. Erst musste sie Andjela von der Begegnung erzählen. Aber sie würde dieses Gebäude nie wieder in der Nacht betreten.


Sie saß im hell erleuchteten Hotelzimmer und wartete darauf, dass die Nacht vorbeiging. Mit den ersten Sonnenstrahlen stand sie auf und kehrte zum Krankenhaus zurück. Der Vogel auf dem Geländer war verschwunden, die Angestellten im Krankenhaus waren in heller Aufregung. Marija bahnte sich ihren Weg durch die wogende Masse an Ärzten und Schwestern ins Schwesternzimmer. Sie setzte sich auf einen Stuhl und wartete, dass Andjela zu ihrem Dienst auftauchte.


Eine Hand an ihrer Schulter holte sie in die Realität zurück. Sie blinzelte und sah in das Gesicht der Oberschwester.


Andjela lächelte und reichte ihr einen Kaffee. »Was gibt es? So früh schon hier?«


»Ich war gestern nach im Krankenhaus, als die Frau umgekommen ist.« Marija nahm einen Schluck. »Ich habe gesehen, was passiert ist. Es war so unwirklich. Da war ein riesiger dunkler Vogel, er hat seinen Schnabel in die Frau gesteckt und von ihr getrunken. Ein zweiter Vogel kam aus der Wand und hat mich angegriffen, aber ich konnte fliehen. Er hat mich nicht weiter als bis zum Ausgang verfolgt.«
Andjela legte die Stirn in Falten, doch ihr Blick war aufmerksam und keineswegs zweifelnd. »Sie waren sicher wach?«


»Ganz sicher. Die Vögel hatten einen langen Schnabel. Sie waren ungefähr so groß wie Schulkinder und blind. Ihre Köpfe waren ganz nackt.«


Die Oberschwester stellte ihren Kaffee ab, stand auf und holte ein Buch aus einem kleinen Regal neben der Tür. Sie blätterte schweigend darin und gab es schließlich aufgeschlagen an Marija. »Es gibt auf dem Land die Legende, dass die Seelen totgeborener Kinder als Vögel in die Welt zurückkehren. Sie stehlen Milch von säugenden Frauen und säugendem Vieh und töten aus Rachsucht Schwangere. Man nennt sie Navi.«


Marija betrachtete die Illustration in dem Buch. »Das waren die Vögel, ganz sicher.« Sie sah Andjela an. »Man sagt, nur diejenigen, die zur gleichen Stunde wie das tote Kind geboren sind, seien in der Lage, die Navi zu sehen. Vor rund achtundzwanzig Jahren wurden hier Zwillinge geboren. Einer starb bei der Geburt, der andere wenige Stunden später. Damals gab es den Flügel noch nicht, wo heute die Entbindungsstation ist, da war der Friedhof.«


»Und diese Vögel, die ich gesehen habe ...?«


»Waren Navi. Vielleicht.« Andjela seufzte und nahm ihren Kaffee.


Marija widmete sich dem Buch. Tatsächlich waren die Navi Geistwesen aus alten Legenden. Alles, was Andjela ihr erzählt hatte, stand in ähnlicher Weise auch in diesem Buch. Aber konnte es diese Wesen geben, die nur von wenigen Menschen gesehen werden konnten? Warum sollten sie so rachsüchtig sein? Sie sah auf.


Andjela zuckte mit den Schultern. »Sie wollten Leben. Vielleicht ist es keine Rache, vielleicht ist es nur der verzweifelte Versuch, zu leben.«


»Wie kann man sie aufhalten?«


»Eine Seele verlässt den Raum durch ein Fenster und findet durch Feuer zum Himmel. Mit der zeit hat man hier in der Gegend keine Leichen mehr verbrannt, vor allem nicht die von Säuglingen. Die Eltern wollten es nicht. Mit Sicherheit liegen hier irgendwo unter dem Krankenhaus die Überreste der Zwillinge.«


»Dann müssen wir sie verbrennen.« Marija klappte das Buch zu und gab es an die Oberschwester zurück.


»Und wie stellen Sie sich das vor? Das Krankenhaus steht auf dem Friedhof.«


Marija seufzte. Sie stand auf und ging in das Hotel zurück. Andjela hatte recht, man konnte nicht einfach das Krankenhaus anzünden. Ob man dem Direktor von den Navi erzählen konnte? Würde er es glauben? Sie schüttelte für sich selbst den Kopf. Nein, man musste anders vorgehen. Sie musste einen guten Plan fassen. Vielleicht half die Idee mit der Sekte weiter.


Am Nachmittag hatte sie sich entschieden. Sie nahm das Telefon in ihrem Hotelzimmer und rief Pjotr an. »Pjotr? Ich bin’s, Mari. Ja, mir geht es gut. Ich brauche deine Hilfe.«


Sie schwieg einen Moment. »Ich will, dass du in Belgrad bei der Polizei anrufst. Du musst einen anonymen Hinweis abgeben, dass eine Sekte einen Anschlag auf das Krankenhaus geplant hat, in dem ich arbeite. Sie wollen das Gebäude mit einer Bombe in die Luft sprengen. Die Polizei soll schnellstmöglich alle Patienten aus dem Gebäude schaffen und das Personal warnen. Ich erkläre dir die Sache, wenn ich wieder zu Hause bin. Tu mir den Gefallen, ja? Ich liebe dich.«


Sie kehrte ins Krankenhaus zurück und verließ es nicht mehr, bis die Polizei aus Belgrad eintraf und das Gebäude räumen ließ. In der allgemeinen Hektik setzte sie sich ab und verschwand in den Keller, in den Raum, wo die Putzutensilien lagen. Sie suchte nach Verdünner und alten Besen und Handfegern aus Holz und Tierhaar, die sich gut anzünden ließen. Anschließend brachte sie alles in einen abgelegenen Raum, stapelte die Besen und setzte es in Brand. Sie rannte aus dem Gebäude und schloss sich den flüchtenden Patienten und Kollegen an. Auf dem Hof entfernte sie sich erneut aus der Gruppe und legte Feuer an die Blumenbeete. Es dauerte eine Weile, bis aus den Schwelbränden richtige Flammen wurden. Marija wartete, bis die Polizei die Feuerwehr alarmiert hatte und beobachtete währenddessen die Flammen. Unter all dem Knacken und Knistern glaubte sie, ein gellendes Schreien zu hören. Die Navi konnten den Weg in den Himmel finden. Vielleicht. Wenn das Feuer stark genug war.

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