11 Juni 2023

Der Antipode

 Sie sah erst auf die große Bahnhofsuhr, dann auf ihre Armbanduhr und zuletzt auf ihr Handy. Der Bus war heute tatsächlich pünktlich gewesen und sie hatte noch Zeit, vor der Abfahrt ihres Zuges in den Bahnhofskiosk und zum Bäcker zu gehen. Die neueste Reiterzeitschrift, um unterwegs zu lesen und zwei Schokobrötchen und eine Flasche Cola, um das viel zu karge Frühstück auszugleichen.


Sie konnte sich auch für die halbe Stunde vor der Abfahrt schon in den Zug setzen und ein wenig vor sich hindösen oder vielleicht sogar schlafen. Schlafen kostete weniger Geld und hatte weniger Kalorien als Zeitschriften und Schokobrötchen. Sie betrachtete den Zug, die Türen standen offen. Sie entschied sich dafür, einzusteigen und aus dem Fenster zu starren oder in ihrem Buch zu lesen, und hielt mit großen Schritten auf das Abteil zu. Die rote Lokomotive ließ zischend Luft ab, als Anette auf einer Höhe mit der Fahrertür war. Sie erschrak nicht, sie hatte immer das Glück, dass solche Dinge genau neben ihren Ohren passierten. Sie hörte das Geräusch kaum, welches für den Augenblick alle nahen Gespräche übertönte.


Sie trat an die Tür des Doppelstockwagens und drückte auf den Knopf, die beiden Flügel glitten auseinander, aus dem Lautsprecher ertönte ein nervtötendes Klingeln, um alle Leute zu informieren, dass nun die Tür offen war. Anette schüttelte den Kopf und setzte einen Fuß auf die Treppe, die ins Innere des Wagens führte. Dabei fielen ihr einige weiße Fußspuren auf, die aus dem Zug hinausführten. Jemand schien im Vorraum in weiße Farbe oder zumindest in Joghurt getreten zu sein. Vermutlich war er an der Station vor ihrem Bahnhof ausgestiegen, die Spuren waren kräftig und schienen frisch.


Sie schüttelte erneut den Kopf. Dass die Leute nicht in der Lage waren, im Zug zu essen. Immer lagen irgendwo Essensreste herum oder es waren irgendwelche Flecken auf dem Boden oder den Polstern. Vielleicht hatte auch jemand absichtlich Joghurt ausgekippt, irgendeine vandalische Mutprobe unter den ach so coolen Jugendlichen. Die Kinder heutzutage hatten einfach nichts mehr zu tun und kein Benehmen noch dazu. Es war wie in dieser japanischen Fernsehserie, wo ein paar Schuljungen einem Yakuza-Boss versuchten, zu erklären, wie das Leben als Gangster funktionierte. Zumindest als das, was sie dafür hielten. Sie kicherte und ging auf die Treppe zu, die vom Vorraum in die untere Wagenhälfte hinabführte.


Sie saß mit Vorliebe hier unten, wo das Dach nicht so niedrig und die Außenwände gerade waren. Vorzugsweise auf einem ganz bestimmten Platz im hinteren Drittel des Wagens. Sie konnte sehr unausgeglichen werden, wenn alle ihre Lieblingsplätze von anderen Fahrgästen belegt waren, insbesondere dann, wenn die anderen Leute die Auswahl zwischen allen Sitzen des Abteils hatten. Vermutlich mochten andere Leute diesen Platz auch sehr gerne, trotzdem fühlte sich Anette persönlich angegriffen, wenn sie nicht dort sitzen konnte. Heute galt ihre Aufmerksamkeit allerdings nicht der Suche nach dem richtigen Platz.


Die weißen Fußspuren kamen aus dem unteren Abteil. Sie führten vom Gang die Treppe hinauf und zur Tür. Anette bereitete sich im Geiste darauf vor, irgendwo in diesem Abteil eine weiße Pfütze aus Molkereiprodukten vorzufinden, vorzugsweise vor dem Sitz, den sie für sich ausgewählt hatte. Sie folgte den Spuren die Treppe hinab und blieb neben dem einzelnen Stuhl am Fuß der Treppe stehen.
Sie starrte auf die Spuren. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie musterte die Fußabdrücke eine Weile, ehe ihr auffiel, was an ihnen so unwirklich war. Die Zehen deuteten in Richtung der Wagentür, jemand war also aus dem Abteil herausgegangen. Die Spuren begannen irgendwo in diesem Abteil und ihr Verursacher war durch die Tür ausgestiegen, durch welche Anette in den Zug gekommen war. Aber wenn die Joghurtpfütze irgendwo im Abteil lag, mussten die Spuren vom Abteil zur Tür hin blasser werden, doch das Gegenteil war der Fall. Je näher die Abdrücke der Tür waren, desto kräftiger waren sie auch.


Anette legte die Stirn in Falten. War irgendjemand rückwärts in den Zug eingestiegen und rückwärts zu seinem Platz gegangen? Warum sollte jemand so etwas vollkommen unsinniges tun? Sie zog sich an der Unterlippe, schüttelte den Kopf und beschloss, den Spuren bis zu der Stelle zu folgen, an der sie sich verloren. Ihre Fantasie übernahm währenddessen die Kontrolle über ihren ansonsten ehr rationalen Verstand. Vielleicht handelte es sich bei dem Verursacher der Spuren um einen Kriminellen, der allen Leuten Glauben machen wollte, er habe den Zug verlassen statt betreten? Vielleicht verbarg sich ein Killer in der Gepäckablage über den Sitzen. Ihr Blick glitt an der Wand entlang nach oben. Nein, in diese Gepäckablage würde kein erwachsener Mensch hineinpassen. Nicht einmal ein Kleinwüchsiger mit Knochen aus Gummi. Selbst ihr eigener Rucksack, in dem sich nur ein Buch, ein Block, eine Flasche mit Wasser und einige Stifte befanden, war gerade noch schmal genug, um dort verstaut werden zu können. Sie musste über ihre eigenen Gedanken kichern. Ein Killer in der Gepäckablage. Selbst Hollywood würde nicht auf eine so dumme Idee kommen.


Die Spuren führten an dem Platz vorbei, welchen Anette als ihr Eigentum betrachtete. Sie legte ihre dünne Jacke und ihren Rucksack dort ab, um den Platz schon einmal für sich zu beanspruchen, ehe sie sich weiter umsah. Die Abdrücke waren hier sehr blass und nur noch teilweise vorhanden. An einem Platz schräg gegenüber von ihrem eigenen, in Richtung der anderen Wagentür, endeten sie abrupt. Der Platz war leer.


Sie sah unwillkürlich zur Gepäckablage hinauf, die ebenfalls leer war. Sie schnaubte und schüttelte den Kopf. Was hatte sie erwartet? Al Pacino mit einer Uzi, auf der Lauer nach abtrünnigen Untergebenen? Sie stand in einem Zug, nicht am Set eines Gangsterfilms. Sie sah noch einmal zu dem Platz, ging darauf zu und betastete das Polster. Es hatte dieselbe Temperatur wie alles andere in diesem Zug, n den letzten Minuten hatte also niemand hier gesessen. Außerdem lagen weder Jacke noch Taschen auf dem Sitz oder in der Gepäckablage. Niemand schien den Platz beansprucht zu haben. Vielleicht war der Fahrgast doch vorher ausgestiegen. Aber warum wurden die Spuren dann zur Tür hin kräftiger?
Anette biss die Zähne aufeinander und zog eine Grimasse, dabei ging sie auf ihren eigenen Platz zurück. Sie zog ein Buch aus der Tasche und begann, zu lesen. Dabei verlor sie jedoch immer wieder ihre Konzentration. Sie sah sich über die Schulter nach dem Platz um, vielleicht war der Fahrgast mit den dreckigen Schuhen ja nur auf der Toilette. Vielleicht kam er wieder. Vielleicht hatte er sich seine Schuhe gesäubert. Sie lachte.


Der Zug setzte sich in Bewegung, ratterte aus dem Bahnhof und nahm Fahrt auf. Ein Schaffner patrouillierte durch das Abteil und kontrollierte die Fahrkarten der wenigen Gäste. Anette legte das Buch zur Seite und zeigte ihren Studentenausweis, der gleichzeitig als Fahrkarte für ihre tägliche Strecke diente. Sie sah an dem Zugbegleiter vorbei auf den leeren Platz schräg hinter ihr. Der Schaffner setzte seinen Rundgang fort, ohne dass seine Füße den weißen Flecken auswichen. Er beachtete den leeren Platz nicht, vor dem die Spuren endeten.


Anette hob eine Hand. »Entschuldigung?«


Der Schaffner blieb stehen und sah sich zu ihr um. »Was kann ich für Sie tun?«


»Wissen Sie, ob vorhin jemand auf dem Platz gesessen hat?«


Der Schaffner folgte mit seinem Blick ihrer Geste auf den leeren Platz. Er zuckte mit den Schultern. »Sicher. Zwischen Höchst und Camberg ist der Zug immer voll. Warum fragen Sie? Haben Sie etwas verloren?«


»Das nicht. Ich wollte nur, ähm.« Sie tippte sich mit dem Finger an die Lippen und sah auf die Fußspuren. »Wegen der Flecken auf dem Boden.«


»Welche Flecken?«


»Schon gut.« Anette winkte ab. »Ist nicht so wichtig. Schmutzige Schuhe passieren eben, nicht wahr?«
Der Schaffner sah sie verwirrt an, wandte sich ab und setzte seine Runde fort. Der Zug hielt an der nächsten Station, etliche Leute strömten ins innere des Wagens, doch der Platz blieb noch immer leer.
Ob sich der Rückwärtsgeher vor dem Schaffner auf der Toilette versteckte? Dann war der Gedanke eines Kriminellen nicht ganz so abwegig. Vielleicht kein so großer Krimineller wie ein Auftragskiller oder ein Mafioso, aber immerhin, Schwarzfahren war eine Art Unterschlagung und damit eine kriminelle Handlung. Auf dem Niveau der japanischen Möchtegern-Yakuza aus dieser Serie. Mit einem großen wirtschaftlichen Schaden für den öffentlichen Nahverkehr, die Bahn und alle anderen Fahrgäste.
Sie sah aus dem Fenster und gähnte. Der Zug verließ den Bahnhof, der kleine Ort zog vor ihrem Blick vorbei, ihm folgen Felder und bewaldete Hügel. Auf einem Hügel erhoben sich noch immer die Skelette der Sonnenblumen des letzten Jahres. Es gab kaum einen beklemmenderen Anblick, als die toten, graubraunen Stängel abgestorbener mannshoher Pflanzen.


Sie blinzelte einige Male. Von allem, was sie bisher in ihrem Leben erlebt hatte, war diese Spuren die mit Abstand seltsamste Begebenheit. Vor allem, weil der Verursacher der Spuren nicht zu existieren schien. Ein Geräusch durchbrach ihre Gedanken, sie sah sich um. Klopfte der Schaffner an die Toilettentür oder bildete sie sich den Ton nur ein? Der Platz war noch immer leer. Auf dem Boden davor waren blasse Fußspuren. Sie lauschte angestrengt. Im Abteil war es still, niemand klopfte an irgendwelche Türen.


Anette nahm ihren MP3-Player hervor, setzte die Kopfhörer auf und hörte Musik. Sie sah wieder aus dem Fenster. Ihre Augen brannten. Nur einen Moment die Lider schließen, damit sich die trockenen Augen erholen konnten.


Sie schloss die Augen. Ihre Musik war leise genug, dass sie das Rattern der Räder durch sie hindurch hören konnte. Ein gleichmäßiges, beruhigendes Geräusch. Sie presste die Unterschenkel an die Rückenlehne vor ihr und kuschelte sich in das Polster ihres Sitzes. Sie hatte die Musik immer so leise, dass sie alle anderen Geräusche durch sie hindurch hören konnte. So wusste sie, dass sie niemanden mit der Musik störte. Außerdem fühlte sie sich sicher, wenn sie noch etwas von ihrer Umgebung mitbekam.
Etwas knackte und knarzte, das Abteil schaukelte heftig hin und her. Anette erwachte aus ihrem flachen Schlaf. Wie viele Stationen hatte sie schon verschlafen? Wo waren sie? Warum war sie wach? Die Durchsage? Nein, eher nicht. Vielleicht die Rückenschmerzen, die die seltsame Haltung verursacht hatte oder das eingeschlafene Bein. Sie gähnte, setzte sich aufrecht hin und streckte die Arme von sich. Sie sah aus dem Fenster. Die Schilder des vorletzten Bahnhofs vor der Endstation zogen vornüber. Sie stockte. Irgendetwas beobachtete sie. Sie konnte die Blicke deutlich spüren.


Sie griff nach ihrem Buch, welches von ihren Beinen gerutscht war und auf dem Boden des Abteils lag, dabei sah sie sich verstohlen um. Sie konnte die weißen Fußspuren auf dem Boden sehen und schlagartig kamen ihre Gedanken vom Anfang der Fahrt zurück. Al Pacino als Schwarzfahrer im Gepäcknetz der Zugtoilette.


Sie kicherte, nahm ihr Buch und wollte es in den Rucksack stecken, doch sie hielt inne. Sie sah auf den Platz zwei Sitze schräg hinter ihrem. Ihr Herz raste, sie zitterte. 


Für einen Moment war es, als höre die Welt auf zu existieren und es gab nur noch sie und das Wesen auf dem Sitz schräg hinter ihrem und selbst diese letzten Überlebenden der großen Auslöschung befanden sich schon im Vergehen. Ihre Wahrnehmung endete um den Fremden herum. Die Welt war schwarz-weiß und grobkörnig, wie ein alter Film.


Sie presste die Augen zusammen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn. Sie öffnete sie langsam wieder, blinzelte einige Male und sah auf.


Das Wesen saß noch immer dort auf dem Platz schräg gegenüber von ihrem eigenen. Es hatte eine eindeutig menschliche Gestalt und sah einem ihrer Professoren sehr ähnlich, mit dunklem Haar, der kleinen, viereckigen Brille und dem freundlichen Lächeln. Doch etwas war anders, fremdartig und nicht normal. Sie konnte noch nicht genau sagen, was es war, aber sie wusste, dass es die Beine des Wesens sein mussten.


Es sah sie an.


Sie erwiderte den Blick, um nicht auf seine Beine zu starren, hatte jedoch nicht lange Erfolg damit. Ihre Augen wichen immer wieder vom Gesicht des Wesens ab zu seinen Beinen. Diese waren im spitzen Winkel an die Rückenlehne des Sitzes vor dem Wesen gepresst, wie ihre eigenen zuvor, als sie geschlafen hatte. Doch die Füße der Gestalt hingen nicht hinab. Sie zeigten nach oben. Was auch immer dort saß und Anette anlächelte, hatte seine Knie nach hinten gedreht.


Nicht nur die Knie.


Anette musterte die Beine, blickte dem Wesen ins Gesicht und sah wieder zur Seite. Auch die Füße der Gestalt waren verdreht. Die Sohlen zeigten zur Decke, die Zehen jedoch nicht zu seinem Gesicht, sondern zum Sitz vor ihm. Es sah aus, als ob jemand hingegangen war, dem Wesen die Unterschenkel samt Knie abgenommen und verkehrt herum wieder eingepflanzt hatte.


Sie blinzelte einige Male verwirrt, dann sah sie wieder auf.


Das Wesen saß noch immer auf seinem Platz und lächelte sie freundlich an.


Anette kratzte sich an der Nase. War das eine anerkannte Behinderung oder bildete sie sich das alles nur ein? Schlief sie am Ende noch? Hatte man in Träumen solche tief gehenden Gedanken? Diese Spuren hatten sie tiefer beeindruckt, als sie gedacht hatte. So musste es sein. Sie träumte und ihr Gehirn versuchte, sich einen Reim auf diese vermaledeiten Fußspuren zu machen.


Das Wesen hob eine Hand und winkte ihr zu. Offensichtlich suchte es Kontakt. Zumindest nahm es ihr das Starren nicht ernst.


Sie schüttelte den Kopf.


Der Zug bremste heftig und kam unter einer Brücke zum Stehen.


Anette hatte nicht mit dem Stopp gerechnet. Sie fiel nach vorne und musste sich mit den Händen abfangen, um nicht mit dem Kopf gegen die Rückenlehne des Vordersitzes zu prallen. Sie richtete sich wieder auf und sah aus dem Fenster, um den Grund des plötzlichen Halts auszumachen. Sie konnte nichts sehen. Vielleicht hatte der Fahrer ein Signal zu spät gesehen. Sie waren in der Nähe des letzten Bahnhofs, die Gleise dort waren zu jeder Zeit von irgendeinem Zug belegt. Sicher hatte der Fahrer ihrer Bahn das Signal übersehen, vielleicht gehörte er auch zu der Gruppe Menschen, die der irrigen Ansicht waren, dass Bremsen etwas für Verlierer sei. Sie zuckte mit den Schultern. Ob sich das Wesen mit den seltsamen Beinen etwas getan hatte? Sie drehte sich herum.


Der Platz war leer, wie zu Beginn der Fahrt. Das Wesen war verschwunden, wenn es jemals da gewesen war.


Anette sah auf den Gang. Die Fußspuren hatte sie sich nicht eingebildet. Sie führten noch immer vom Sitz zur Tür oder rückwärts in die andere Richtung. Ein Wesen mit den Knien hinten konnte sie verursacht haben.


Oder Al Pacino, der sein Einsteigen verbergen wollte und sich nun mit einer Uzi auf der Zugtoilette vor dem Schaffner versteckte und darauf wartete, in der Endstation unbemerkt in der Masse aussteigen zu können. Damit niemand sein Schwarzfahren bemerkte.

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