04 Juni 2023

Geisterjagd

 Wir hatten zusammen einigen grenzwertigen Blödsinn angestellt, Nina und ich, aber ich glaube, dass die Sache mit der Domäne Blumenrod das mit Abstand spektakulärste Bubenstück war. Wir waren, wie alle Teenager, auf Abenteuer aus und was lag näher, als ein verfluchtes Haus zu untersuchen?
Nina hatte Geschichten über Geister in der Domäne aufgeschnappt, immer wieder erzählt und weiter ausgeschmückt. Das Gebäude war baufällig, mehrere Firmen hatten sich angeblich an der Renovierung versucht, und waren gescheitert. Angeblich weil jemand oder etwas die Bauarbeiten behinderte. Dabei war erst von Einbrechern die Rede, dann von Obdachlosen, Sekten, Geistern und schließlich Dämonen. Als die Geschichte nicht mehr zu steigern war, entschlossen wir uns, dem Ganzen selbst auf den Grund zu gehen.


Wir beobachteten das Gebäude über mehrere Tage von unserer Seite des maroden Bauzauns aus, sammelten alle möglichen Gerüchte, lasen die Warnschilder und den Hinweis auf Denkmalschutz am Zaun und versuchten herauszufinden, ob Arbeiter die Baustelle betraten oder nicht. Zu unserer Überraschung war tagsüber nie jemand zu sehen.


Schließlich kam die große Nacht. Wir hatten uns mit grünem Tee und Kaktusfeigensaft, der damals bei uns groß angesagt war, wach gehalten. Ninas Eltern waren nicht zu Hause, ihr kleiner Bruder schlief oder war mit seiner Playstation beschäftigt. Wir beiden Teenagermädchen waren allein und hatten in dieser Nacht alle Freiheiten. Und das nötige Wissen um die Domäne. Es gab außer dem Gerücht keine allgemein bekannten Spukgeschichten über den Ort. Offenbar lag die Baustelle einfach nur brach, was uns sehr entgegenkam. Denn auf einer leerstehenden Baustelle würde uns niemand sehen.


Wir packten uns jeder ein Trinkpäckchen mit Kaktusfeigensaft in die Taschen, schnappten uns unsere Jacken und eine Taschenlampe und legten den kurzen Weg von Ninas Haus zu der Domäne zurück. Dort angekommen quetschten uns durch eine Lücke im Bauzaun, die uns bei unseren vorherigen Besuchen nicht aufgefallen war. Irgendjemand musste den Zaun an der Stelle verrückt haben, um selbst auf die Baustelle zu gelangen.


Vom Bauzaun aus gelangten wir in eine Art Säulengang, von dem Nina erklärte, dass es sich um den ehemaligen Stalltrakt handelte. Vor uns lag im Restlicht der Straßenlaternen der breite Gang und dahinter der Hof der Domäne. Wir huschten durch die Bogengänge, immer darauf bedacht, im Schatten zu bleiben, und erreichten einen Graben, der die ehemaligen Stallungen vom Hof abtrennte. Auf der anderen Seite konnten wir deutlich das alte Pächterhaus erkennen. Nicht wegen des Mondlichts, sondern weil in einem der Fenster Lich brannte. Mit dem Licht hatten wir einen starken Hinweis, dass es ich bei den mysteriösen Gestalten zumindest nicht um Gespenster handelte.


Während mich die Erkenntnis, es mit Menschen zu tun zu haben, eher beruhigte, bewirkte sie bei Nina das Gegenteil. »Vielleicht sollten wir das Ganze sein lassen und heimgehen? Ich meine, wenn da wirklich ein Psychopath oder ein Satanist wohnen?«


Ich schnappte mir die Taschenlampe aus Ninas Jackentasche und deutete auf den Hof. In mir war die Detektivader wieder erwacht, die sich seit meiner Mickey-Maus-Zeit versteckt gehalten hatte. »Wenn mir jemand was will, kann ich ihm damit eins überziehen. Du bleibst hier und wartest, ich gehe nachsehen, wer da in dem Gebäude ist!«


Nina wich zögerlich in den Schatten einer Säule zurück. Wir kannten uns lange genug, dass sie meinen Sturkopf nicht infrage stellte.


Ich umklammerte die Taschenlampe, schlich aus dem Stalltrakt heraus, kletterte in den Graben hinab und auf der anderen Seite wieder raus und sah mich dann auf dem großen Innenhof um.
Es waren mehrere Meter bis zum Wohngebäude, schwer zu schätzen, wie weit genau. Allerdings sah ich im Mondlicht, dass eine Tür neben dem Fenster angebracht war. Ich konnte den beleuchteten Raum also problemlos erreichen.


Ich duckte mich und ging mit großen Schritten auf die Tür zu. Damals war ich überzeugt, dass alle großen Detektive und Einbrecher denselben Laufstil haben mussten, um nicht gesehen zu werden. Ich hatte vielleicht die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht und war gerade dabei, im Windschatten des Wohngebäudes nach Deckung zu suchen, als das Hoflicht aufflammte.


»Der Mörder!«, brüllte Nina aus dem Stallgebäude.


»Scht!«, machte ich, richtete mich aber auf und rannte in ihre Richtung. Als ich den Stall deutlich sehen konnte, hechtete ich darauf zu, landete jedoch am Hang des Grabens. Ich rollte mich über die Schulter ab, ein Manöver, von dem ich nicht wusste, dass ich es noch beherrschte, richtete mich auf und krabbelte in den Stall. Erst dort angekommen, wandte ich mich um und sah über den Hof, ob der psychopathische, untote Mörder mir gefolgt war. In dem Moment hatte ich allerdings mehr Angst vor der Schelte, weil wir in ein fremdes Gebäude eingedrungen waren als um mein Leben.
Das Licht im Fenster brannte noch immer, ansonsten war dort nichts zu sehen. Rechter Hand verschwand eine Katze im Schatten eines weiteren Gebäudeteils.


Ich schüttelte den Kopf. »Das war bloß eine streunende Katze. Was für ein Blödsinn. Dabei war ich fast an der Tür. Los, lass es uns nochmal versuchen!«


»Du spinnst doch total! Wir sollten gehen, bestimmt kommt der Typ da gleich raus und bringt uns um die Ecke!«


»Ich glaube nicht, dass das Mörder sind.« Ich zuckte mit den Schultern, gab aber Ninas Willen nach. Vielleicht war es eine bessere Idee, abzuwarten, bis niemand auf dem Gelände war. Wir kehrten zu ihr nach Hause zurück.


Einige Wochen später wollten wir einen neuen Versuch wagen, doch der Bauzaun war mittlerweile vollständig ersetzt und bot keine Lücken mehr, durch die man in das Gebäude hätte vordringen können.
Die Domäne befand sich damals schon im Besitz einer ehrenamtlichen, evangelischen Stiftung und wurde von Helfern in deren Freizeit renoviert. Vielleicht war es gut, das damals nicht zu wissen. So hatten wir wenigstens ein kleines Detektiv-Abenteuer erlebt, auch wenn es nicht erfolgreich war.

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