21 Mai 2023

Spuren im Zug

 Sie betrat wie jeden Morgen den Bahnhof. Es war kurz nach sechs Uhr und noch dunkel, obwohl man bereits eine Ahnung des nahenden Sommers haben konnte. Wie immer hatte sie den Weg vom Busbahnhof zu ihrem Zug im Laufschritt zurückgelegt. Es hatte wenig mit der Kälte oder der Dunkelheit zu tun. Auch der schlechte Ruf des Bahnhofsvorplatzes ließ sie kalt. Das Tempo ihrer Schritte war mehr eine Gewohnheit. Wie das Treppensteigen oder das Stehen an Haltestellen. Sie sagte sich immer, dass es diese Kleinigkeiten seien, die ihr erlaubten, niemals über ihre Essgewohnheiten nachdenken zu müssen und dennoch schlank zu bleiben. Der Zug war mit ihr gemeinsam eingetroffen, wie immer, wenn der Bus pünktlich an seinem Ziel angekommen war. Es war einer der großen, roten Doppelstockzüge, die die Deutsche Bahn auf ihren Nahverkehrsstrecken in der Nähe größerer Städte einsetzte.


Sie wartete am ersten Wagen hinter der Lok, bis sich die Türen öffneten. Sie warf einen Blick auf die anderen Reisenden, fast alles Pendler wie sie. Studenten, Schüler, Angestellte, Beamte. Doch an diesem Morgen war wenig los. Neben ihr wartete ein Rentnerehepaar, schwer ausgestattet mit Koffern und Taschen. Offenbar auf dem Weg in den Urlaub. Die Türen öffneten sich und einige Pendler stiegen aus. Sie ließ sie durch und stellte sich dabei so vor die Rentner, dass diese nicht in den Zug drängen konnten. Zum einen hasste sie die Hektik, die vor allem Urlaubsreisende ausstrahlten, die sich nicht einmal an die elementarste Regel halten konnten: Erst die Andern aussteigen lassen. Zum Anderen hatte sie eine fast schon zwanghafte Gewohnheit: Sie saß immer im unteren Abteil auf einem bestimmten Sitz. Immer. Wenn ihr das nicht möglich war, wurde sie nervös. Der Wagen war ihr dabei egal. Wichtig war die Lage des Sitzes. Alles war wie sonst auch an diesem Morgen. Bis ihr beim Einsteigen in den Zug etwas auffiel. Auf dem Boden klebten Fußabdrücke aus Joghurt. Oder weißer Farbe oder Milch. Sie vermied es, in die Abdrücke zu treten und betrachtete dabei kopfschüttelnd den Boden. Sie konnte Leute nicht ausstehen, die öffentliches Eigentum verdreckten. Insbesondere nicht mit offenbar klebrigen Materialien. Sie ging zur Treppe. Natürlich kamen die Fußspuren aus dem unteren Abteil. Sie seufzte. Hoffentlich kamen sie nicht von ihrem Platz. Doch nach einigen weiteren Schritten stutzte sie. Sie blickte zurück zur Tür, dann wieder vor sich. Die Fußspuren zeigten eindeutig in Richtung der Tür. Es waren Spuren von Herrenschuhen, etwa Größe 43 oder 44, nicht allzu viel größer jedenfalls als ihre Winterschuhe. Und die Zehen zeigten zur Tür. Doch je weiter sich die Abdrücke von der Tür entfernten, je weiter ins Abteil sie kamen, desto blasser wurden sie.


Die junge Frau überlegte einen Moment nach einer rationalen Erklärung. Vielleicht war die Person erst irgendwo im Abteil durch die Flüssigkeit gelaufen? Nein, unsinnig. Wäre dem so, müssten die Spuren auch zur Tür hin blasser werden. Der Träger der Schuhe hatte sich vielleicht die Masse übergeschüttet. Eine gute Möglichkeit. Aber dann sollten die Spuren gleichmäßiger sein. Sie lehnte gegen einen Sitz und musterte die Spuren, die hier im Abteil auch ein klares Profil aufwiesen. Ihr fiel eine letzte Möglichkeit ein: Der Träger musste rückwärts gelaufen sein. Zwar wusste sie nicht, warum jemand rückwärts durch ein Zugabteil laufen sollte, doch ihr erschien diese Lösung dennoch schlüssig. Sie hatte die Person zwar nicht aussteigen sehen, aber das konnte daran liegen, dass der Träger an einer früheren Haltestelle den Zug verlassen hatte. Sie beschloss, den Spuren zu folgen. Sie mussten ja irgendwohin führen. Tatsächlich lag ihr Ursprung im ersten Wagen in der linken Sitzreihe. Am drittletzten Platz, dem Platz schräg hinter ihrem. Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, hier jemanden vorzufinden, doch nichts war zu sehen. Nur die fast unsichtbaren Abdrücke der Schuhsohlen. Fast gegen ihren Willen, vor allem aber gegen ihre Logik, warf sie einen hastigen Blick in die Gepäckablage über dem Sitz, dann unter den Sitz. Natürlich war niemand da. Sie lachte über ihren eigenen, unsinnigen Gedanken und setzte sich auf ihren üblichen Platz. Sie nahm ihr Buch aus ihrem Rucksack und begann zu lesen. Nach einer Weile klappte sie das Buch zu, verstaute es im Rucksack und beschloss, zu schlafen. Vorher sah sie noch einmal auf den Sitz.


Er war noch immer leer.

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