02 Mai 2023

Der unerwartete Gast

Klara betrat das Herrenhaus. Sie hatte die hell erleuchteten Fenster von der Straße aus gesehen und hoffte, hier Hilfe zu bekommen. Ein Mann in schwarzem Smoking hieß sie mit einem breiten Lächeln willkommen.


„Entschuldigen Sie, wir hatten nicht mehr mit einem Gast gerechnet. Der Ball hat bereits begonnen. Bitte, folgen Sie mir.“


Klara schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Gast, ich brauche nur Hilfe. Ich hatte einen Unfall und möchte die Polizei anrufen.“


Der Mann im Smoking ignorierte ihre Bitte. Er führte sie über den Flur in den hell erleuchteten Ballsaal. Duzende Pärchen tanzten über den Boden, mit Schritten so leicht, dass es aussah, als schwebten sie. Hunderte Kerzen erleuchteten den Saal, ihr Licht spiegelte sich in den raumhohen Fenstern. So oder so ähnlich mussten die Bälle Marie Antoinettes auf Versailles ausgesehen haben.
„Bitte“, wandte sich Klara an den Mann im Smoking: „Ich muss wirklich die Polizei anrufen.“
Der Mann deutete auf eine Bank vor einem der Fenster. „Dann warten Sie bitte hier. Ich werde den Hausherren rufen. Setzen Sie sich, genießen Sie den Ball.“


Klara zögerte. Sie spürte die Blicke der anderen Gäste, die über sie strichen und sie stumm aufforderten, dem Ball beizuwohnen. Vielleicht war es keine so schlechte Idee. Der Unfall hatte sie sehr aufgewühlt und ob der Wagen jetzt eine Stunde mehr oder weniger im Graben lag, spielte keine Rolle.
Sie saß auf der Bank am Fenster und lächelte den Gästen zu. Die Musik waberte durch den Raum und erfüllte sie mit einer tiefen Zufriedenheit. Nach einer Weile – sie wusste nicht, wie lange – schritt ein junger Mann auf sie zu.


„Darf ich um diesen Tanz bitten?“


Klara stand auf. Der Butler musste sie vergessen haben, aber auch das spielte keine Rolle mehr. Sie reichte dem jungen Mann die Hand. Sie tanzten über das Parkett und Klara fühlte den Boden nicht mehr unter ihren Füßen.


Mondlicht fiel auf die Tanzenden. Blasses Blau und silbriges Weiß flossen durch sie hindurch. Klara erstarrte in ihrem Tanz. Sie sah erst jetzt, dass keiner der Gäste einen Schatten warf. Niemand spiegelte sich in den Scheiben der raumhohen Fenster.


Sie riss sich los, rannte zur Tür. Ihre Schritte verhallten hinter der lauten Musik. Sie flog durch den Gang, erreichte endlich den Ausgang. Doch der Mann im Smoking trat in ihren Weg. „Sie können nicht gehen. Kein Geist hat jemals diesen Ball verlassen.“


„Aber ich ... ich lebe noch!“


Der Butler deutete auf die Spiegelkommode neben der Haustür.


Klara folgte zögernd mit ihrem Blick der Geste. Sie hätte ihrem Spiegelbild in die Augen sehen müssen, doch der Spiegel blieb tot und stumm und die Musik aus dem Saal verschwand unter dem Knistern eines Feuers. 


(Basierend auf: Juliane Werding: Der Mitternachtsball)

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