07 Mai 2023

Der Spielplatzmörder

 Er telefonierte hektisch mit der Polizei. Die junge Frau am anderen Ende versicherte ihm, sofort einen Streifenwagen vorbeizuschicken, er solle sich nur weiter in seiner Wohnung aufhalten. Er wartete, schließlich erschienen zwei Beamten an seiner Wohnungstür. Er öffnete ihnen, noch ehe sie klingeln konnten. Der Diensthöhere der beiden Männer stellte sich als Erwin Reuter vor und überfiel ihn noch an der Tür mit Fragen nach den toten Kindern, seinen Gewohnheiten und seinem Aufenthalt zur Tatzeit.
Michael bat die Beamten herein, ehe er antwortete: »Ich bin mir nicht sicher. Da war dieser Traum, das Kind mit dem zertrümmerten Schädel und das ganze Blut in meinem Bett. Aber meine Tür war abgeschlossen, wie immer. Die Einbrüche in der Gegend, Sie verstehen?«


»Und wo genau waren Sie am Nachmittag, Herr Schneider?«


»Ich habe geschlafen, nehme ich an. Wissen Sie, ich schlafe, seit ich hergezogen bin, sehr schlecht. Da schläft man immer, wenn man müde ist.«


»Kennen Sie den Spielplatz?«


»Ich jogge jeden Tag im Wald, der liegt auf meiner üblichen Runde.«


Reuter machte sich einige Notizen, nickte und stand auf. Ehe er mit seinem Kollegen ging, legte er Michael ans Herz, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. Schlafmangel konnte bekannterweise zu schlimmen Halluzinationen führen und er wollte sich nicht mit falschen Fährten aufhalten lassen. Immerhin ging es um eine Mordserie an kleinen Kindern.


Michael folgte dem Rat. Er glaubte selbst nicht daran, dass er die Tat begangen hatte, aber der Traum und das Blut. Er suchte Frau Doktor Kerstin Pohl, eine Psychotherapeutin mit Sitz im Nachbarort auf und erzählte ihr von seinen Lebensumständen. Seit einigen Wochen arbeitete er nun im Schichtdienst, etwa seit derselben Zeit schlief er schlecht und litt unter heftigen Albträumen, in denen er Kinder brutal ermordete. Außerdem verschlief er häufig den Beginn seiner Schichten, wenn er einmal schlief. Das Einzige, was er jeden Tag routiniert durchzog, war sein Sport.


»Es kann sein, dass Sie durch den Beginn des Schichtdienstes eine Schlafdysfunktion erlitten haben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen im Schichtdienst sehr schlecht einschlafen, nur, um dann sehr fest zu schlafen. Allerdings glaube ich, dass Ihr Fall etwas anders gelagert ist. Gab es in Ihrer Familie bereits früher Probleme mit Schlafwandeln, nächtlichen Essattacken oder dergleichen?«


»Meine Schwester hat als Jugendliche schlafgewandelt. Ich auch, ein- oder zweimal, als ich gerade die Schule gewechselt hatte.«


»Hatten Sie Probleme in der Schule?«


»Ich wollte den Wechsel nicht, aber ich musste. Wir waren zuvor umgezogen. Außerdem gab es in der Schule einige Schlägertypen, die es auf mich abgesehen hatten. Ich konnte als Kind nicht besonders gut mit Gleichaltrigen umgehen.«


Kerstin nickte, entschuldigte sich und verschwand einen Moment im Nebenzimmer. Sie kehrte nach einigen Minuten zurück. »Gab es in letzter Zeit außer Ihrem Umzug und der neuen Arbeit noch Stressfaktoren in Ihrem Leben?«


»Nein. Warten Sie, doch. Ich lebe jetzt seit etwa fünf Wochen hier. Das andere liegt schon etwas zurück, vier Monate. Nein, fünf. Ich hatte eine Freundin und wir erwarteten ein Kind. Aber sie hatte eine Fehlgeburt. Sie hat es nicht verkraftet.«


»Ich verstehe.« Sie sah auf die Uhr. »Unsere Zeit für heute ist um, Herr Schneider. Ich möchte nächste Woche etwas mehr auf Ihre Jugendprobleme eingehen, wenn Ihnen das recht ist?«


Michael nickte, verabschiedete sich und ging nach Hause. Er schaltete den Fernseher ein und sah sich eine Weile das Kinderprogramm an. Es war kein Wunder, dass die heutigen Kinder allesamt so unmöglich waren. Diese vollkommene Reizüberflutung aus allen Kanälen musste ja Folgen haben. Er schaltete das Gerät nach einer halben Stunde wieder ab und legte sich ins Bett. Sicher hatte Frau Doktor Pohl recht und er litt nur unter dem momentanen Stress. Sobald er sich in die neue Situation eingefunden hatte, würde es nachlassen. Er hatte bestimmt keine Kinder getötet, wieso sollte er auch? 

Er verarbeitete nur die schrecklichen Nachrichten in seinen Albträumen. Genau so musste es sein.
Michael wachte am nächsten Morgen auf, weil jemand hektisch an der Tür klingelte und klopfte. Er sah auf seine Armbanduhr, bemerkte, dass er sie nicht trug, stand auf und öffnete die Tür. Reuter stand mit seinem Kollegen davor. »Wir müssen Ihre Wohnung durchsuchen. Diese Uhr gehört Ihnen, nehme ich an?«


Er hielt Michael die goldene Uhr vor die Nase, die er einmal von seiner Freundin zu Weihnachten bekommen hatte und die seinen Namen ins Uhrband eingraviert trug. Er nickte mechanisch und ließ die Polizisten eintreten.


Reuters Kollege durchsuchte die Zimmer gründlich, während Reuter selbst bei Michael blieb. »Heute Abend wäre beinahe noch ein Kind ermordet worden. Zum Glück konnte ein Passant den Täter vertreiben. Anschließend hat dieser aufmerksame Bürger die Uhr am Tatort gefunden.«


»Herr Reuter!« Der Kollege kam zurück und reichte seinem Vorgesetzten eine blutbeschmierte Beißzange. »Die lag in seinem Kleiderschrank.«


»Ich hätte Ihnen Glauben schenken sollen, Herr Schneider. Dann wäre diesem armen Kind heute viel erspart geblieben. Wenigstens ist nichts weiter passiert.« Er sah zu seinem Kollegen. »Sehen Sie sich um, ob Sie noch mehr Beweise finden.«


»Sind Sie nur wegen der Uhr auf mich gekommen?«


»Nein, jemand hat uns einen Verdacht mitgeteilt. Sie sind Schlafwandler?« Michael nickte, Reuter ebenfalls. »Und dann sind da Ihre Probleme mit Kindern. Das sind keine Beweise, sicher, aber zusammen mit Ihrer Selbstanzeige und dieser Zange passt das alles gut ins Bild. Und dann war da Ihre Uhr am Tatort. Nicht auf dem Weg, auf dem Spielplatz.«


»Ich verstehe. Ich bin froh, dass es vorbei ist, glauben Sie mir.«


»Herr Schneider, ich werde Sie nun festnehmen wegen des Verdachts auf die Kindsmorde auf dem Spielplatz.«


Michael wehrte sich nicht, als der Beamte ihm Handschellen anlegte und ihn zum Streifenwagen führte. Auf dem Weg sah er gen Himmel und seufzte.

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