04 April 2023

Die Flucht (Flashfiction)

 Sie hatten sich im Kerker unter dem Palast kennengelernt. Beide waren Kleinkriminelle und warteten auf ihren Prozess. Und beide wollten nicht tatenlos bleiben. So beschlossen sie gemeinsam ihre Flucht. An einem Nachmittag stahl einer von ihnen den Wachen den Schlüssel und während der Wachablösung brachen sie gemeinsam aus. Sie folgten den endlosen, labyrinthischen Gängen bis hinaus auf den Innenhof des Schlosses. Nun lag das Hauptgebäude vor ihnen, einer der am besten bewachten Plätze der ganzen Stadt. Und ihr einziger Weg in die Freiheit. Ohne sich umzusehen, hasteten die beiden Männer über den Platz.
Mit einem Mal erklangen hinter ihnen laute Stimmen und sie wussten, dass man ihre Flucht bemerkt hatte. Sie rannten schneller, erreichten das Hauptgebäude. Doch der direkte Ausgang war bereits von Wachen versperrt. Ratlos sahen die Beiden einander an, bis einer von ihnen auf die Idee kam, es über die Galerie des großen Bankettsaals zu versuchen. Diese hatte zwei Ausgänge. Einer führte zu einer Treppe in ihrer Nähe, der Andere zu einer in der Nähe der Küche. Eilig rannten sie die Stufen hinauf. Ihre Verfolger kamen immer näher.
Völlig außer Atem erreichten die beiden Männer die Tür auf die Galerie, durchquerten sie und schlossen sie hinter sich. Einen Moment lehnte einer von ihnen keuchend mit dem Rücken an der Tür. Sie hörten von draußen das Gebrüll der Männer, dann ein Schlüsselklirren. Erschrocken sprang der Müde auf und zog an der Tür, doch sie war verschlossen.
"Sie haben uns eingeschlossen!", teilte er panisch seinem Kameraden mit. Dieser versuchte nun ebenfalls, die Tür zu öffnen. Doch sie blieb verschlossen. Geistesgegenwärtig deutete er auf den zweiten Ausgang und drängte den Müden zur Eile. Gemeinsam gingen sie eiligen Schrittes über den Gang. Vorsichtig, scheu berührte der Müde den Türknauf und zog daran. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Er sah zu seinem Kameraden. Dieser versuchte ebenfalls sein Glück, doch auch die Tür zur Küche war verschlossen. Sie waren eingesperrt. Nun erst besahen sie sich den Raum genauer. Sie waren auf einem höheren Stockwerk, der Saal selbst war zweieinhalb Stockwerke hoch. Über die Brüstung konnten sie nach unten sehen, doch der Sprung aus dieser Höhe war gefährlich. Zumal es auch im Saal selbst keinen sicheren Ausgang gab. An der Decke in der Mitte des Saals hing ein gigantischer Lüster aus Messing mit kristallenen Anhängern. Er endete ungefähr auf der Höhe der Galerie, war jedoch mehrere Meter entfernt. Gegenüber der Brüstung befand sich ein riesiges Fenster, dass den Raum in der gesamten Breite und Höhe einnahm. Wenn sie nur von der Brüstung mit genug Kraft durch das Fenster kämen ...
Der Kamerad des Müden zog einige Scheiben Brot aus seiner Tasche und teilte sie unter den Männern auf. Während sie stumm aßen und über ihre Flucht nachdachten, hörten sie von draußen das Gemurmel der Wachen.
"Ob sie uns hier gefangen nehmen?", flüsterte der Müde.
Sein Kamerad schüttelte den Kopf: "Ich glaube kaum. Sie werden uns aushungern wollen. Wir müssen einen Weg hier herausfinden."
Er deutete mit dem Kopf auf den Lüster: "Was wir benötigen, ist ein Seil."
Der Müde nickte stumm. Sie brauchten ein Seil, doch sie hatten keines. Nachdem sie gegessen hatten, gingen sie beide die Galerie entlang und überlegten weiter, was nun zu tun sei. Schließlich trat der Kamerad des Müden gegen einen Pfeiler der Brüstung und brach ihn so heraus. Er zog seine Kleidung aus und knüpfte sie an den Pfosten. Dann befahl er dem Müden, dasselbe zu tun. In der Hoffnung, dass sein Gerät lang genug sei, schwang er es über seinem Kopf und zielte schließlich auf den Lüster.
In diesem Moment betrat der Hauptmann der Wache die Galerie.

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