11 April 2023

Sch(l)äfer (Flashfiction, Fantasy)


 Sie wollte in der Stadt einkaufen. Von ihrem Campus aus war es nur eine halbe Stunde in die Innenstadt, also plante sie ihren Einkaufsbummel nach ihren Vorlesungen. Wie immer, wenn sie in der Universität war, und wie immer im Winter, trug sie die schwarze Lederhose, die schwarzen Lederstiefel und die schwarze Lederjacke, die sie so liebte. Sie fühlte sich wohl in ihrer Lederkluft und sie mochte das Gefühl, auf Fremde bedrohlich zu wirken. Es wiegte sie in Sicherheit. Da es sehr kalt und windig war und sie zu Ohrenschmerzen neigte, trug sie an diesem Tag zudem eine schwarze Wollmütze.
In dieser Kleidung stieg sie vor ihrem Campus in der Nähe des Sportstadions in die Straßenbahn. Sie nahm, wie so oft, eine der hinteren Türen und nahm in der Mitte des Wagens auf einem freien Sitz Platz. Es waren zehn Stationen bis zur Innenstadt. Die Straßenbahn klingelte und setzte sich schwerfällig in Bewegung. Sei beobachtete die Leute, die auf dem Bürgersteig vorbeigingen und die Autofahrer auf der Straße. Immer wieder beobachtete sie so seltsame Begebenheiten. Die ältere Frau mit dem Kind, dass für ihres zu jung war und für einen Enkel zu alt. Sie fragte sich, ob es vielleicht ein Neffe war. Oder adoptiert. Oder ein Kind ihres neuen Mannes aus erster Ehe. Sie machte sich häufig Gedanken zu den Passanten. Kurz hinter der zweiten Station wurden ihre Gedanken jedoch unterbrochen. An der Haltestelle war ein Kontrolleur zugestiegen, der nun vor ihr stand.

Image by sledgirlmt fromPixabay


"Ihren Fahrschein, bitte", murmelte er in der gelangweilten Stimme, die ihr verriet, dass seine Schicht sich langsam dem Ende zuneigen musste. Sie holte ihre Geldbörse aus ihrem schwarzen Rucksack, in welchem sie ihre Universitätsutensilien aufbewahrte. Sie öffnete das Fach für Ausweise und Kreditkarten und zog ihren Studentenausweis hervor. Dieser berechtigte sie zum kostenlosen Nutzen öffentlicher Verkehrsmittel der Stadt. Der Kontrolleur nahm die scheckkartengroße Plastikkarte und studierte eingehend das Foto. Dann sah er ihr ins Gesicht. Sie erwartete ein Nicken und die Rückgabe ihres Ausweises, doch stattdessen wurde das Gesicht des Kontrolleurs misstrauisch:
"Sind das wirklich Sie?"


Irritiert nickte die Studentin und reichte dem Kontrolleur nun auch ihren Personalausweis. Der Kontrolleur betrachtete diesen genau und ging mit ihm zur Lokführerin. Die Beiden berieten sich einen Moment. Neugierig trat die Studentin auf die Beiden zu. Die Lokführerin war erstaunlich alt, vielleicht achtzig oder gar neunzig Jahre. Ihre weißen Haare und das pergamentene, faltige Gesicht sahen gut aus, sie trug das Alter mit Würde. Als die Studentin den vorderen Teil des Zuges erreichte, hörte sie die letzten Fetzen des Gesprächs:
"Sie ist es, oder?", flüsterte der Kontrolleur.


Die Lokführerin nickte: "Ja, sie ist die Terroristin."


Erschrocken und zornig spannte sich die Studentin und deutete mit ausgestrecktem Finger auf die alte Frau. Als sie sprach, war ihre Stimme gefasst, aber so laut, dass alle anderen Fahrgäste aufsahen:
"Das sind unhaltbare Anschuldigungen! Sie sollten lernen, Leute nicht nach ihrer Kleidung zu beurteilen!"


Nach dem Ausbruch riss sie dem Schaffner ihre Ausweise aus der Hand und stieg wutentbrannt an der nächsten Haltestelle aus der Straßenbahn. So weit war es nicht, sie würde zu Fuß in die Innenstadt gehen. Von der Haltestelle führte ihr Weg vorbei an der Klinik und durch einen Stadtwald. In diesem Wald befand sich mittig eine haustiefe Grube. Da die Studentin den Wald auf direktem Weg durchquerte, kam sie auch an der Grube vorbei. Interessiert trat sie näher. Sie hatte dem Wald nie viel Aufmerksamkeit geschenkt. Am Fuß der Grube stand eine alte Scheune, halb in die Erde hineingebaut. Sie beschloss, sich die Scheune genauer anzusehen, und kletterte in die Grube hinab. Sie erreichte das Dach der Scheune und von dort einen umlaufenden Balkon. Dieser hatte eine Tür auf den Heuboden, durch die sie ging. In der Scheune waren Kinderstimmen zu hören. Neugierig trat sie bis ans Ende des Heubodens und äugte hinab. In der Scheune probten einige Grundschüler für ein Theaterstück. Sie erkannte einige Hirten und einen Engel, vermutlich ein Krippenspiel. Lächelnd richtete sie sich auf und verließ die Scheune wieder. Geschickt kletterte sie die Wand der Grube hinauf. Oben angekommen, sah sie noch einmal auf die Scheune zurück. Als sie sich umwandte, um ihren Weg fortzusetzen, sah sie ein Schaf zwischen den Bäumen. Neugierig trat sie etwas vor und beobachtete das Tier. Es kam langsam näher, dann schnaubte es. Es hatte aufgewundene, runde Hörner. Ein Bock. Plötzlich schrie er laut und preschte an ihr vorbei auf die Scheune zu.

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