18 April 2023

Zeitbeben

 Ich saß angespannt in dem kleinen Flugzeug. Die Passagiere neben mir versperrten den Blick aus dem Fenster, obwohl die Scheiben der kleinen Privatmaschine sehr groß waren. Ich hatte Bedenken, dass ich Stonehenge bei unserem Überflug nicht sehen würde. Wir waren am Morgen mit fünf Mann von einem der Londoner Flughäfen aufgebrochen und ich hatte das Glück gehabt, den Platz in der Mitte der Maschine zu erhaschen. Seufzend klopfte ich meinem Nachbarn auf die Schulter und hob meine Kamera:
„Entschuldigung?“

Image by Joe from Pixabay

Der junge Mann rückte lächelnd zur Seite. Ich beugte mich über ihn. Der Pilot flog zufällig eine Kurve und schien einen Platz für die Landung zu suchen. Ich presste das Teleobjektiv gegen die Scheibe des Flugzeuges, ohne auf die blonde Frau am Fenster zu achten, und machte hastig einige Bilder des Steinkreises. Im selben Moment fragte ich mich, warum ich mich eigentlich wie ein dummer Tourist benahm. Ich rückte auf meinen Platz zurück, kurz bevor der Pilot uns anwies, genau das zu tun. Er setzte zur Landung auf einer freien Wiese nördlich des Steinkreises an. Wir erreichten durchgeschüttelt, aber wohlbehalten den Boden. Ich sah fragend auf den Piloten. Dieser nickte nur in Richtung Süden. Etwas befremdet machte ich mich mit den anderen vier Gestalten auf den Weg. Wir fanden Stonehenge nach einer guten Wegstrecke vor, umzäunt von Elektrodraht und unzugänglich. Ich seufzte und war über meine Luftbilder froh. Vor dem verschlossenen Tor wartete ein quietschgelber Kleinbus, dessen indischer Fahrer uns fröhlich zulächelte:
„Zurück nach London?“


Ich nickte resigniert und kletterte auf einen der Sitze. Meine Begleiter wollten auf den Wächter des Kreises warten. Auch gut. Der Bus schaukelte mich in Richtung London zurück, ich beobachtete die Landschaft draußen erstaunlich träge vorbeiziehen. In London organisierte ich sofort meine Abreise. In Deutschland gab es noch genug Dinge zu sehen. Ich machte mich ohne weitere Umwege auf zum Schloss Neuschwanstein. Etwas enttäuscht stellte ich fest, dass in seinen Räumen ein Internat untergebracht zu sein schien. Uniformierte Schüler beiderlei Geschlechts, Lehrer in dunklen Anzügen und Lehrerinnen in ebensolchen Kostümen hasteten über die Gänge. Ich stand mit meiner Kamera verloren dazwischen. Eine Lehrerin mit dunkelblondem Dutt, Haarnetz und dem Charme eines Fräulein Rottenmeier eilte vorbei. Ich hob die Hand, um sie aufzuhalten, doch sie ignorierte mich. Also machte ich mich auf eigene Faust auf, mir das Schloss-Internat Neuschwanstein anzusehen. Als Erstes fand ich das Büro des Rektors. Hier hatten sich einige der Lehrer versammelt. Der Direktor war ein dicker Mann mit Glatze. Er trug ebenfalls einen dunklen Anzug, zog an einer Zigarre und beachtete mich nicht weiter. Die Ansammlung an Menschen in diesem Büro wirkte irgendwie unecht. Als handele es sich um Wachsfiguren oder Gemälde. Ich hatte nicht das Gefühl, in diesem Raum Hilfe zu finden. Eine Weile besah ich mir die getäfelten, goldverzierten Wände, die teuren Wandteppiche und den Mahagonischreibtisch, um dann den Raum ruhigen Schrittes zu verlassen.


Ich folgte einem langen Gang zu einer Art Halle. Den Boden zierten Goldintarsien, die Eingänge waren mit dicken Vorhängen verhangen. Die Eltern der Internatsschüler zahlten sicher ein Vermögen. Ich sah mich im Raum um und wollte gerade durch eine der Türen, als der Boden unter mir zitterte. Ein Erdbeben? Hier? Ich stand irritiert vor der Tür, durch die ich gerade im Begriff zu gehen war. Einige Schüler und Lehrer rannten panisch an mir vorbei nach draußen.


„Das Schloss stürzt ein! Ein Erdbeben!“


Ich sah ihnen nach und schüttelte den Kopf. Wir waren mitten in den Bergen. Drinnen konnte es nicht so gefährlich sein wie draußen. Sicher gab es einen sicheren Raum. Ich tastete mich durch die Flure tiefer in das Schloss, öffnete jede Tür und prüfte die Decken des Raumes auf ihre Architektur. Als die Erdstöße stärker wurden, fand ich endlich ein Zimmer, das sicher erschien. Die Decke wurde durch Halbbögen gestützt. Der vermutlich stabilste Raum des Gebäudes. Ich trat ein und schloss die Tür hinter mir und sah mich um. In der Mitte des Raumes stand ein großes, prunkvolles Himmelbett. Die Wände waren bemalt. Szenen aus dem Nibelungenlied, wenn ich es richtig erkannte. Der Boden bebte wieder. Ich ging zum Bett, um mich darunter zu verstecken. Die sichersten Orte bei Erdbeben waren unter Möbeln oder direkt neben Schränken. Ich wartete eine Weile unter dem Bett, bis die Erdstöße nachließen. Dann kroch ich hervor und erschrak. Vor meinem Gesicht baumelte eine Hand. Wann war noch jemand in dieses Zimmer gekommen? Ich zog mich langsam unter dem Bett hervor und blickte vorsichtig auf. Auf dem Bett lag ein junger Mann. Schwarzes Haar und ein täuschend echtes Kostüm der Kleidung von König Ludwig II. Der Mann sah auf. Ich prallte zurück. Wenn das eine Maske war, dann die Beste, die mir je untergekommen ist.


„Wie kommt sie in Unser Schlafzimmer?“


„Bitte?“


„Wie sie in Unser Schlafzimmer kommt!“


Ich war verwirrt. Ein Schauspieler? Ein Darsteller von König Ludwig II von Bayern? In einem Internat? Bei einem Erdbeben?


„Äh, durch die Tür?“


„Was will sie hier?“


„Das Erdbeben.“


„Oh, wir verstehen. Das Schloss ist sicher. Das Schloss wird nicht einstürzen.“


Ich schluckte und sah mich um. Schließlich fasste ich Mut, den hübschen jungen Mann mit dem schwarzen Bart anzusprechen:
„Verzeihung, aber wer sind Sie?“


„Wir? Unser Name ist Ludwig von Wittelsbach. Das ist Unser Schloss. Aber sie braucht sich nicht zu sorgen. Das Schloss übersteht das Beben unbeschadet.“


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