07 April 2023

Jedes Ding braucht Struktur – aber braucht jedes Ding dieselbe?

Hallo meine lieben Mitgefangenen in der Welt der Buchstaben!

Quarzkristall (M. Nilov via pexels)
Ich bin ein Planer, ein Eichhörnchen und ein Süchtling nach Struktur. Nicht so schlimm wie mein erster Kristallographie-Dozent an der Uni. Ich züchte keine perfekt spiegelsymmetrischen Zimmerpflanzen. Aber wenn mir all die verlorenen Jahre in den Geowissenschaften eine Sache beigebracht haben, dann diese:
Die Natur liebt Struktur.
Im ewigen Kampf gegen das Chaos sind bestimmte Muster entstanden, immer und immer wieder. Struktur ist Stabilität, eine Waffe gegen den immer drohenden Zerfall. Struktur beginnt auf subatomarer Ebene und zieht sich bis in die komplexesten

Gebilde, das Leben und das Denken.

Was hat das mit Büchern und Geschichten zu tun?

Auch diese folgen bestimmten Mustern. Dem Kontinuum von Ereignissen und Emotionen. Berichte und Bilder erzählen ein Ereignis, Musik ist beinahe reine Emotion. Bilder- und Kurzgeschichten, Romane, Theater, Film, Gedichte und Lieder liegen alle auf dem Weg irgendwo dazwischen. Aber alle diese Erzählformen, abgesehen von Bildern, haben noch eine andere Sache gemeinsam: den dreiteiligen Aufbau.
Selbst der überzeugteste Drauflosschreiber hat am Ende eine Geschichte, die einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Warum? Weil dies ein natürlicher Ablauf ist.
Wir Menschen kommen an einen neuen Ort, lernen, uns zurechtzufinden, und schließen neue Freundschaften und Feindschaften (Anfang). Erst danach entdecken wir diesen neuen Ort mit all seinen Gefahren, Versuchungen und Freuden (Mitte). Und irgendwann sind wir entweder an diesem neuen Ort zuhause oder kehren in unser altes Zuhause zurück (Ende). Aristoteles‘ Idee der drei Akte ist nichts weiter, als der Ausdruck einer natürlichen Gegebenheit. Und weil diese Struktur unserer menschlichen Lebenswelt entspricht, findet sie sich auch in unseren Erzählungen wieder. Es ist die Erfahrung, die wir alle teilen. Es ist der Weg, nach dem man Dinge erlernt. Abstrakte genauso wie Praktische.

Was ist mit der Struktur, die Ratgeber vorschlagen?

Viele Ratgeber, die man findet, gehen sehr viel detaillierter auf die Form einer Geschichte ein. Sie reden von Set-Up und Zweifel, von auslösenden Ereignissen, Wendepunkten und emotionalen Tiefen. Und das alles in einer handlichen, übersichtlichen Linie – dies ist DIE Struktur, die alle Menschen anspricht und sich deshalb gut verkauft. Daran ist nichts falsch, allerdings ist diese Betrachtung einseitig und funktioniert nicht für jede Geschichte.
Tatsächlich kommen all die Phasen und Ereignisse in einer guten Geschichte vor, aber nicht zwingend in der Reihenfolge und nicht zwingend nur einmal. Das führt zum nächsten Problem, das mir in vielen Ratgebern aufgefallen ist: der eine Protagonist. Geschichten jeder Art haben nur einen einzigen Helden, der seine Probleme zu bewältigen hat und die Geschichte voranbringt. Alle anderen Figuren – mit Ausnahme des Gegenspielers – haben sich diesem Helden unterzuordnen. Diese Konstellation ist zwar üblich, da ein einziger Held leichter zu verfolgen ist, aber nicht die einzig sinnvolle. Tolkiens „Herr der Ringe“ hat mehr als einen Protagonisten und schafft es trotzdem, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Etwas weniger bekannt ist Peter S. Beagles „Es kamen drei Damen im Abendrot“ mit fünf gleichwertigen Protagonisten. Oder David Mitchells „Chaos“ und „Wolkenatlas“, die erst im Rückblick einen zusammenhängenden Text ergeben.

Woher kommt diese Einseitigkeit?

Konzept des Monomythos, englisch
Konzept des Monomythos
Während der eine Protagonist ein wiederkehrendes Motiv ist – wie erwähnt erzählt es sich leichter, außerdem hat es in epischen Werken durchaus etwas mit dem zu tun, das man heute Fanservice nennt – ist die lineare Handlung ein recht neues Konstrukt. Viele Mythen mäandern, fließen über eine breite Ebene von Zeit und Raum, durchaus auch mit mehr als einem Protagonisten. Wer ist die wichtigste Person im trojanischen Krieg? Achilles, der Held der Ilias? Agamemnon? Odysseus, der den Krieg beendet? Paris, dessen Handlung ihn
überhaupt erst entfacht hat? Alle erfüllen wenigstens eine Voraussetzung, um Protagonist zu sein. Alle sind gleichwertig. Fehlt einer, entwickelt sich die Geschichte anders.
Der Fokus auf die lineare Geschichte kam vermutlich mit Joseph Campbells Versuch, eine Art urmenschliche Mythenstruktur, den Monomythos, zu finden. Allerdings ist sein Ansatz fragwürdig. Er analysiert insbesondere Texte europäischen Ursprungs (mit männlichen Hauptfiguren) oder deren Vorläufer und baut daraus das Konzept der Heldenreise, mit dem er fortan alle anderen Geschichten analysiert, die ihm begegnen. Die Heldenreise ist eine lineare Struktur, die einem einzelnen Helden folgt. Das typische (und passendste) Beispiel ist die Odyssee, die Geschichte von Odysseus‘ Irrfahrten – eine Sammlung einzelner Abenteuer, die lose in einen zeitlichen Ablauf gebracht worden sind. Später hat Hollywood (und dann insbesondere Disney) diese Struktur zum Grundmuster für Drehbücher gemacht.

Warum?

Die Heldenreise bzw. die etwas veränderte Form, die Hollywood nutzt, eignet sich hervorragend für lineare Kurzformen, wie Filme. Und ja, im Vergleich zu Romanen sind Filme eine emotionsbetonte Kurzform. Ein bebilderter Schritt auf dem Weg zur Musik. Sie gibt klare Checkpunkte und eine wiedererkennbarer Struktur – und damit eine Art Nostalgieeffekt, der die Emotion des Films noch einmal verstärkt. Und sie ist der Grund, weshalb viele Literatur-Verfilmungen schwächer sind als das Buch.

Warum?

Romane folgen nicht zwingend einer linearen Mono-Struktur. Sie verlieren den Fokus, betrachten Details und Nebenfiguren. Die Emotion ist weniger stark, dafür breiter gestreut. Bücher können nicht nur in Zeit und Ort, sondern auch in Sichtweise und Gefühl hin- und herspringen, auf eine Weise, für die Filme keine Zeit haben. Bücher können „den Beat“ (Filmbegriff, ein Handlungsereignis) mehrmals anschlagen. Es kann in einem Buch mehr als ein auslösendes Ereignis, mehr als eine Haupthandlung geben.
Aber viele Ratgeber für Romane basieren auf Ratgebern für Hollywood. Viele Autoren von Ratgebern analysieren Filme – bevorzugt Disney und Pixar, die nicht einmal subtil mit der Struktur umgehen – und schreiben ihre Analysen basierend darauf. Wenn sie Bücher in die Betrachtung mit aufnehmen, machen sie denselben Fehler, den Campbell gemacht hat und wählen solche, die ihrem Ergebnis entsprechen. Schlimmer, sie versuchen, selbst Büchern, die nicht dem Schema entsprechen, ihr Schema überzustülpen. Herr der Ringe ist keine mono-protagonistische Heldenreise wie Star Wars. Selbst Star Wars entspricht nicht exakt Campbells Monomythos, auch wenn der Film sehr viele Elemente davon enthält.

Wichtig für die Struktur ist nur, dass es einen Anfang gibt, um die Welt kennenzulernen, und ein Ende, um sie als Teil des normalen Lebens anzuerkennen. Und eine wilde Mitte dazwischen. Wie viele gleichbedeutende Handlungen es auf dem Weg gibt, liegt in der Hand und den Fähigkeiten des Autors.
Aber wenn ihr mit dem Ziel einer Verfilmung schreibt – oder noch sehr am Anfang steht – helfen all die linearen Strukturen durchaus weiter. Es ist die Form, an die Menschen heutzutage am besten gewöhnt sind. Also ist es nicht falsch, sich daran zu orientieren. Allerdings sollte man nicht jede Idee in die Struktur hereinprügeln. Ein halbflüssiger Kuchenteig lässt sich ja auch nicht wie Keksteig ausstechen.

Trotzdem ist es nicht verkehrt, einige Strukturelemente im Blick zu behalten. Der Übergang zwischen Anfang und Mitte und der zwischen Mitte und Ende sind wichtige Wendepunkte. Außerdem sollte es wenigstens ein auslösendes Ereignis und wenigstens einen Tiefpunkt geben. Ein Wendepunkt in der Mitte der Geschichte macht die Dinge übersichtlich – ist aber nicht so notwendig, wie man vielleicht auf den ersten Blick glauben mag.

TL;DR:

Wählt die Struktur, die zu eurem Stil und eurer Geschichte passt. Lest nicht nur einen Ratgeber, seht euch mehrere Ideen an. Analysiert selbst die Bücher, die ihr mögt, und folgt deren Beispiel. Kopieren ist ein wichtiges Werkzeug in Kunst und Handwerk. Kopiert Plotpunkte und Strukturen, erzählt eure Lieblingsgeschichten neu. Lernt erst ein bewährtes Rezept, ehe ihr eine eigene Kreation versucht. Gebt nur kein abgeschriebenes Werk als euer eigenes aus.

In diesem Sinne frohes Schreiben!
SaSa

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