14 März 2023

Velosiped

by pixaby
 

 Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war. Vor einer Ewigkeit, wie ihr schien, war sie mit dem Fahrrad auf den Standstreifen der Autobahn aufgefahren und radelte nun mit voller Kraft neben den LKWs her. Niemand schien das Mädchen auf dem Rad zu bemerken. Die Autobahn führte immer geradeaus, zum Horizont und immer, wenn sie glaubte, den Horizont erreicht zu haben, wuchs ein neues Stück Asphalt in den Himmel. Um sie herum gab es nichts, es schien, als existiere keine Welt jenseits dieser Autobahn. Keine Straßenschilder, keine Notrufsäulen. Nur Asphalt, Lastwagen und ein Mädchen auf einem Fahrrad. Sie erreichte einen Abschnitt der Autobahn, der mit Kies bedeckt war. Weiße Kieselsteine auf dem Standstreifen, Schotter auf der Fahrbahn. Das Rad schlingerte, sie hatte Mühe, es unter Kontrolle zu halten. Endlich fand das Mädchen eine Abfahrt. Sie bog ab, ließ das Rad bis auf die Landstraße rollen. Hier war niemand mehr. Keine LKWs, keine Autos, keine Menschen. Doch die Welt schien zurückgekehrt. Um sie herum wuchs Gras, es erhob sich ein Wäldchen mit Nadelbäumen. Sie passierte einen Holzeinschlag, hier ragte ein alter Baum zwischen den Stümpfen empor. Sie blieb stehen und betrachtete das bizarre Bild.


Der Baum war verkrüppelt, verzerrt, nur eine Ahnung einer Pflanze. Seine Borke war, wo sie vorhanden war, weiß, doch sein Stamm verriet, dass es sich um einen Obstbaum handeln musste. Vielleicht ein toter Apfelbaum. Sie hatte sich schon immer über die knorrige Wuchsform dieser Bäume amüsiert, doch dieser hier schien ihr irgendwie unwirklich, unheimlich. Sie riss sich von dem Bild los und folgte weiter der Straße. Mit einem Mal wusste sie, warum sie unterwegs war. Sie suchte etwas, einen längst vergessenen Ort. Zu ihrer Rechten tat sich eine Lichtung auf. Sie hatte das Gefühl, einmal hier gewesen zu sein. Doch sie wusste nicht mehr, ob es in einem Traum oder in Wahrheit gewesen war. Sie erinnerte sich an irgendetwas auf dieser Lichtung. Doch sie hielt nicht an, diesen Ort suchte sie nicht. Stattdessen fuhr sie weiter. Immer der Straße folgend.


Es dämmerte langsam und sie bemerkte, dass sie gen Westen fuhr. Vor ihr entflammten nach und nach die Wolken am Horizont in glühendem Rot, sie fuhr genau auf die untergehende Sonne zu, die sich wie eine riesige, glühende Scheibe der Erde zu neigte. Nun sah sie es, das Haus, der Ort, den sie gesucht hatte. Hier würde sie für die Nacht unterkommen. Und sie würde ihren Eltern Bescheid geben, dass sie hier war und sie bitten, sie abzuholen. Als das Mädchen das Haus erreicht hatte, stellte sie das Fahrrad auf der Veranda ab und zog ihr Handy hervor. Sie schrieb eine kurze SMS mit ihrem Aufenthaltsort und der Wegbeschreibung an ihre Mutter. Als Erläuterung fügte sie eine Skizze des unheimlichen Baumes bei, dann trat sie ein. Die Haustür stand weit offen und die Hausherrin kam ihr mit strahlendem Lächeln entgegen. Sie nahm das Mädchen an der Schulter und führte es ins Kinderzimmer. Dort tobten drei Kinder auf den Betten. Irgendetwas erschien dem Mädchen seltsam. Sie sah, dass die Kinder die Münder bewegten, schrien und lachten, doch sie hörte keinen Ton. Es war völlig still. Sie sah zu der Mutter, diese deutete auf das Bett und ihre Lippen formten das Wort "spat". Sie kannte die Sprache nicht, die die Frau sprach, doch sie verstand den Sinn des Wortes. Mit ungutem Gefühl schob sie die Kinder vom Bett, um sich hinzulegen.


Am nächsten Morgen erwachte sie, von den Kindern angestarrt.

"Wo sind eure Eltern?"


Die Kinder schienen sie nicht zu verstehen, wandten sich ab und verließen das Zimmer. Das Mädchen stand auf. Ihr Blick fiel aus dem Fenster, vor dem Haus waren Tische aufgebaut, es schien eine Feierlichkeit anzustehen. Eilig verließ auch sie das Zimmer und begann, nach der Mutter zu suchen. Sie wollte sich bedanken, doch mit einem Mal war sie allein in dem Haus. Irritiert betrat sie die Veranda und nahm ihr Fahrrad. Ihre Eltern hatten sich noch nicht gemeldet und sie beschloss, zurückzufahren. Als sie auf das Rad stieg, spürte sie eine Hand auf der Schulter. Sie sah sich um, vor ihr stand ein stämmiger Mann mit schwarzem Haar, wohl der Hausherr. Er schüttelte den Kopf.


"Du kannst nicht mehr gehen. Du hast den Baum gesehen. Wer immer den Baum sieht, kann nicht mehr gehen."


Sie schauderte. Weniger über die Worte des Mannes, als über die Tatsache, dass sie ihn verstand. Sie wusste, dass sie ihn nicht verstehen konnte. Sie sprach seine Sprache nicht, sie kannte sie nicht einmal. Und er sprach ihre Sprache nicht, sie sah es an seinen Lippen. Doch sie verstand ihn. Und sie fügte sich, stellte das Rad zurück und ging in den Garten. Langsam trafen die Partygäste ein. Auch die Kinder und die Mutter waren wieder hier. Sie setzte sich an einen der Tische und sah sich um. Eine tiefe Fröhlichkeit erfasste sie, sie war glücklich. Ein weiteres Mädchen ging vorbei, sie hatte einen alten Hund bei sich. Sie erkannte den Hund und das Mädchen. Sie stand auf und winkte, doch weder das Mädchen noch der Hund sahen sie an. Sie trat näher, war sie doch mit dem Mädchen gut befreundet. Der Hund knurrte, ohne sie anzusehen.

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