21 März 2023

Königin der Nacht (Flashfiction; Fantasy; Romantik)

Image by David Mark from Pixabay
 

 Sie hatte die Gruppe aus den Augen verloren und irrte nun allein in dem großen Park herum. Sie hatte es ja von Anfang an für eine miserable Idee gehalten, mit all diesen Jugendlichen in einen Freizeitpark zu fahren, als einzige Erwachsene. Aber auf anderem Wege hätte sie diesen Park vermutlich nie besuchen können und diese neue Achterbahn nicht ausprobieren können. Sie war kein Achterbahnjunkie, keiner dieser Irren, die ihr Leben damit verbrachten, zu vergleichen, wie oft sie mit welcher Bahn gefahren waren. Aber sie mochte Achterbahnen und wollte so viele davon fahren, wie nur irgend möglich. Doch nun hatte sie die Kleingruppe, mit der sie unterwegs war, aus den Augen verloren. Nachdem sie zuvor noch an dem kleinen See standen, wo man Tretboot fahren konnte und es diese neuen, modernen Attraktionen mit den Schiffen und den Wasserkanonen gab. Sie erinnerte sich noch an den schwarzen Parkmitarbeiter, mit dem sie sich kurz unterhalten hatte und an den echten Kaiman, der einem ihrer jugendlichen Begleiter einen ordentlichen Schrecken eingejagt hatte. Dann war sie allein in dieser Halle.


Es war eine einfache Halle. In anderen Parks waren darin In-Door-Achterbahnen oder Flugsimulatoren untergebracht. Sie kannte auch Parks, wo man ganze Themenbereiche in solche Hallen packte. Doch diese Halle hier war leer, vom hügeligen Kunstrasen und den Tageslichtlampen in der Decke abgesehen. Vermutlich entstand hier gerade erst eine Bahn, aber wie konnte sie dann überhaupt die Halle betreten? Sie sah sich um. Keine offene Hallentür, keine Arbeiter, nichts. Einen Moment zweifelte sie daran, ob sie wach war. Dann hörte sie ein Geräusch hinter der Wand zu ihrer Linken.


"Hallo?"


Sie trat näher an die Wand, bekam jedoch keine Antwort. Sie legte den Kopf schief, pochte gegen die Wand.


"Hallo?"


Immer noch keine Antwort. Nichts. Kein Ton. Wieder pochte sie an die Wand und diesmal fiel ihr auf, dass das entstehende Geräusch hohl klang. War hinter der Wand ein weiterer Raum versteckt? Es war sicher nicht unüblich, ein Technikraum oder dergleichen so zu verstecken. Sie betrachtete die Wand, tastete sie ab und fand tatsächlich eine schmale Tür. Sie öffnete sie und war erstaunt. Vor ihr erstreckte sich ein weiterer Raum, ebenso groß wie der Vorhergehende. Irritiert blieb sie in der Tür stehen und blickte zwischen den Räumen herum. Wieder das Geräusch. Sie trat vollkommen in den neuen Raum ein und schloss die Tür hinter sich. Hügeliger Kunstrasen, Tageslichtlampen. Eine kleine Holzhütte an einem Ende, auf einem der Hügel standen ein Tisch, zwei Stühle, ein Podest und darauf zwei Sessel mit Samtpolstern. Throne? Sicherlich die Ausstattung für die Szeneriebahn, die hier entstand. 


Sie trat näher auf die Gegenstände zu. Erst jetzt bemerkte sie die detailreichen Puppen, die auf einem der Sessel und den Stühlen saßen und sich zu unterhalten schienen. Ihre Lippen bewegten sich, doch sie konnte keinen Ton hören. War das ein Testlauf? Sie hatte noch nie so lebendige, mechanische Puppen gesehen. Sie waren blass wie Tote, mit tiefen, völlig schwarzen Augen. Sie trugen altertümliche Frisuren und Kleidung. Zwei sahen aus wie Bauern oder Landarbeiter. Vielleicht achtzehntes Jahrhundert. Sie trat noch näher. Die dritte Puppe war prunkvoller gekleidet, trug glänzende Stiefel, eine Hose aus Leder, ein Samthemd und einen Mantel, der mit Kunstpelz besetzt war. Ihr fehlte nur noch die Krone, um das Aussehen eines dämonischen Prinzen oder etwas ähnlichem zu komplettieren.
Sie betrachtete die Puppe eingehend und fragte sich, was für ein Thema diese Bahn wohl haben mochte. Sie war so in ihre Überlegung vertieft, dass sie nicht bemerkte, wie die beiden ärmlicheren Figuren aufstanden und näher kamen. Erst, als sich der Prinz auch erhob, taumelte sie erschrocken zurück.
"Wir haben dich erwartet", sprach die Prinzenpuppe mit klarer, männlicher Stimme. 


Sie schnappte nach Atem, als die beiden Bauernpuppen ihre Arme griffen und festhielten. Ihr erschrockener Blick musste ihre Gedanken preisgegeben haben, denn die Prinzenpuppe lächelte amüsiert.


"Oh, du dachtest, wir seien nicht echt? Puppen vielleicht? Mechanische Figuren, wie draußen im Park?"


Er lachte.


"Du irrst. Wir sind, was du schon immer gesucht hast. Ich bin der, nachdem du dich dein Leben lang sehntest ..."


Er trat näher auf sie zu, schloss sie sanft in seine Arme. Die beiden anderen Figuren ließen sie gehen. Sie ließ alles geschehen. Sein Kopf beugte sich zu ihrem, er sog den Duft ihres Haares ein, rieb seine Wange an der ihren. Sie spürte, wie ein tiefes, unstillbares Verlangen sie erfüllte. Sie lehnte ihre Schläfe gegen seine Schulter, gab ihren Nacken frei. Mit einem Mal wusste sie, wer er war. Er war keine Puppe, nein, sicher nicht. Dennoch hätte sie sich niemals auch nur träumen lassen, ihm zu begegnen. Sie erwartete ihn. Er senkte seinen Kopf zu ihrem Nacken.


"Sei meine Königin!"


Er hauchte die Worte ihn ihr Ohr und noch ehe sie antworten konnte, spürte sie den erlösenden Schmerz.


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