21 Februar 2023

Hänsel und Gretel ...

 Sie war auf dem Nachhauseweg in den Zug eingestiegen. Es dämmerte bereits, als der Zug ab fuhr. Eine Station, zwei Stationen. Sie gähnte. Eine Stimme erklang von irgendwoher:


"Wir begleiten heute ein normales Mädchen auf ihrem Weg vom Bahnhof nach Hause. Die Dokumentation soll zeigen, wie sich Menschenweibchen in der Nacht verhalten."


Drei Stationen. Der Zug hielt, sie stieg aus. Vor ihr lag der alte Bahnhof, um den sich seit Jahren niemand mehr kümmerte. Das Bahnhofsgebäude zierten Graffiti jeglicher Art, zerschlagene Fensterscheiben und ein altes Wirtshausschild, welches sich nur noch halb an seiner Aufhängung halten konnte. Der Unterstand war mal wieder zerschlagen worden, der Fahrkartenautomat defekt, wie immer. Sie stellte diese Sachen beiläufig im Vorbeigehen fest. Immerhin gingen die Straßenlaternen.


"Sie macht sich auf den Weg zur Straße. Diese ist etwas stärker befahren",


kommentierte die Stimme. Sie störte sich nicht daran, sondern folgte ihrem täglichen Weg. Er führte sie zur Straße, die Straße entlang eine Anhöhe hinauf. Rechter Hand passierte sie einen Supermarkt, der bereits geschlossen hatte. Ihr gegenüber lag ihre alte Grundschule. Ein hässlicher Bau aus den Fünfzigern. Oder Siebzigern, sie wusste es nicht und es war ihr gleich. Das Gebäude war fast rundherum mit gelben Kacheln gefliest. Eines der hässlichsten Gebäude, das sie kannte. Sie bog links ab und folgte nun der Hauptstraße, vorbei an einer Bäckerei. Hielt auf einen Zebrastreifen zu.


"Sie geht die Straße entlang. Sie wirkt gelangweilt, kaum angespannt. Dieses Mädchen war das beste Forschungsobjekt, welches wir uns aussuchen konnten. Sie kennt ihren Weg genau und scheint ihn wirklich jede Nacht zu gehen. Man sollte nicht vergessen, dass es stockdunkel ist. Hier ist es so bewölkt, dass nur die Straßenlampen Licht spenden. Nun überquert unsere Menschin den Überweg und wendet sich wieder nach links."

Image by Ralph Lindner from Pixabay


Auf der Höhe eines Zeitschriftenladens, den sie als Schülerin häufig aufgesucht hatte, um Klebebildchen und Süßigkeiten zu kaufen, hielt sie inne und sah gen Himmel:


"Du könntest deine Klappe halten!", knurrte sie der Stimme zu, die daraufhin verstummte. Sie folgte der Straße zu einem weiteren Zebrastreifen, überquerte diesen und befand sich nun vor der Kirche des Ortes. Ein alter Bau aus Kalkstein, vom Zahn der Zeit schon völlig verdunkelt. Hier war es endlich völlig dunkel. Die Straßenlaternen waren ausgegangen, kaum, dass sie die andere Straßenseite erreicht hatte. Sie wandte sich nach rechts, ging an der Kirche vorüber und hielt bei der Buche an, die sich davor erhob. Sie strich zärtlich über die Blätter und schickte sich an, am Pfarrhaus vorüber zu gehen. In diesem Moment gaben die Wolken den Mond frei. Fahles Licht fiel auf den Boden und erst jetzt fiel ihr auf, wie kontrastlos die nächtliche Umgebung war. Am Ende der Straße bogen zwei Kinder um die Ecke, vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Sie hielten einander an den Händen und hüpften den Weg entlang. Sie schauderte. Kindern um diese Uhrzeit allein auf der Straße, wer ließ sie jetzt nur hier laufen. Kopfschüttelnd ging sie weiter. Wind kam auf und brachte ihr den Gesang der Kinder ans Ohr:


"Hänsel und Gretel
Verliefen sich im Wald.
Es war so finster.
Und auch so bitterkalt.
Sie kamen an ein Häuschen ..."


Je mehr sie sich den Kindern näherte, desto stärker wurde ihr Schaudern, bis sie vor Angst kaum mehr weiter gehen konnte. Eine Straßenlaterne flackerte und brachte wieder Licht. Noch immer war die Szene völlig farb- und kontrastlos. Die Kinder hopsten an ihr vorbei. Ihre Köpfe waren weiß, völlig ohne Gesicht. Sie sog tief die Luft ein und zwang sich, einfach ruhig weiterzugehen. Der Gesang der Kinder entfernte sich von ihr. Sie hatte gerade die Ecke erreicht, die sie Linkerhand nach Hause führte, als der Wind drehte und wieder Wolken vor den Mond brachte. Nun war es wieder dunkel. Mit dem Wind kam auch der Gesang zurück:


"Doch als die Hexe
Zum Ofen schaut hinein.
Ward sie gestoßen.
Von Hans und Gretelein ......"


Sie beschleunigte ihre Schritte, hörte hinter sich das Hopsen der Kinder. Sie bog um die Ecke, zu ihrem Haus waren es nur noch wenige Meter. 


"Die Hexe musste braten.
Die Kinder geh’n nach Haus ..."


Sie begann zu rennen.


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