28 Februar 2023

Der Hexenturm (Flashfiction; Fantasy; Abenteuer; Hexen)

 Sie hatte das Gelände erreicht, auf welchem sie ihren Auftrag erledigen sollte. Es war ein alter Flugplatz, der Asphalt der Startbahn war an vielen Stellen aufgebrochen und die Natur trat wieder zutage. Ein flacher Stacheldrahtzaun schütze das Gelände vor Eindringlingen, vor allem vor Füchsen und Kaninchen. Oder er hatte es zumindest einmal getan. Mittlerweile war er alt und rostig und fiel an einigen Stellen in sich zusammen. Sie hatte auf diese Weise keine Probleme, das Gelände zu betreten und den Asphaltresten zu folgen. Am hintersten Ende des Flugplatzes befand sich der alte Tower, daneben eine kleine Halle. In diesem Gebäude sollte er leben, der alte Hexenmeister. Sie glaubte nicht an Hexerei und die Geschichten, die man sich von diesem Mann erzählte und hielt den Titel mehr für das alberne Pseudonym eines geltungssüchtigen Verbrechers. Aber gleichgültig, wer oder was er in Wirklichkeit war, sie war hier, um ihn festzunehmen. Oder zu erschießen, sollte er sich allzu sehr zur Wehr setzen. Sie blieb hinter einem wilden Busch stehen, Himbeeren oder Brombeeren oder Sonst-irgendetwas-Beeren und überprüfte ein letztes Mal ihre Waffe, dann eilte sie geduckt in die Halle des alten Flugplatzes. 

Image by Hans from Pixabay

Hier war es leer und trostlos. Der Wind pfiff durch die gesprungene Panoramascheibe, durch die man einst den Flugverkehr beobachten konnte. Der PVC-Boden mit dem seltsamen, grau-weißen Muster war aufgequollen und wölbte sich unter ihren Füßen. Ihre Schritte fühlten sich schwammig und unsicher an. Auf dem Boden lagen die rostigen Überreste des ehemaligen Inventars: Teile von Mülleimern, Metallbänken, ein Stück Gummi einer Maschine, ein implodierter Computerbildschirm. Von der Decke tropfte eine schmierige Flüssigkeit, die vermutlich einmal Kühlwasser der Klimaanlage gewesen war. Mit einer Mischung aus Faszination, Furcht und Ekel sah sie sich in der Halle um. Rechts von ihr befanden sich die Überreste der Toiletten und etwas, das vor langer Zeit ein Schreibtisch gewesen sein musste. Gegenüber lag der eigentliche Eingang des Gebäudes. Eine alte Tür lehnte müde in den Angeln und schien verklemmt und sich nicht mehr öffnen zu lassen. Sie beschloss, dies nicht weiter zu überprüfen, und wandte sich nach links, zum Tower. Die einstige, elektrische Tür war zerstört und stand an einer Seite offen. Sie war vermutlich mit Gewalt aufgedrückt worden. Wer lebte überhaupt freiwillig an einem so trostlosen Ort? 


Sie seufzte und machte sich daran, die Treppen im Tower nach oben zu steigen. Sie hatte einige Stockwerke vor sich. Nach den ersten beiden Treppen vernahm sie ein Geräusch aus einem Raum neben dem Treppenhaus. Sie trat vorsichtig auf die halb geöffnete Tür zu und lugte, mit gezogener Waffe, durch den Spalt. In dem Raum, der vielleicht einmal eine Art Aufenthaltsraum für die Lotsen in der Pause gewesen war, befanden sich noch zwei alte, durchgesessene Sofas und ein abgewetzter roter Teppich. Davon abgesehen wirkte der Raum genauso tot und trostlos wie die Halle. Sie hörte das Geräusch erneut. Ein Kratzen, wie das Geräusch einer großen Spinne nur um einiges lauter. Und sie war sich nun sicher, dass das Geräusch aus diesem Raum kam. Sie öffnete langsam die Tür und sah sich einer gigantischen, goldenen Spinne gegenüber. Für einen Moment war sie gebannt, glaubte an eine Halluzination, bis sich die Spinne auf sie zu bewegte. Ihre Bewegungen waren langsam, ruckartig und unnatürlich. Sie hob die Waffe und schoss. Die Kugel sprang mit einem metallischen Geräusch von der Oberfläche der Spinne ab. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie einem Roboter gegenüberstand. Vielleicht eine Art Wachsystem oder eine mechanische Spielerei. Immerhin kein Hexenwerk. Die Spinne blieb zischend stehen und klackte mir ihren Mundwerkzeugen. Das Klacken wurde leiser, die Bewegungen langsamer. Sie hob schwerfällig eines ihrer Beine, dann ein weiteres, drehte sich herum und schleppte sich in den Raum zurück. Neugierig sah sie dem Gerät nach. Eine widerwillige Bewunderung für den Schöpfer dieses Wesens machte sich in ihr breit. Egal, was er war, er war ein begnadeter Mechaniker. Und das, obwohl er in diesem Loch lebte. Oder gerade deswegen. Für einen Moment fragte sie sich, warum man diesen Mann eigentlich festnehmen sollte. Er schien ihr verschroben, einsiedlerisch und nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber ungefährlich.


Das Geräusch von Schritten ließ sie aufschrecken. Kam der Hexenmeister zurück? Die Schritte waren schlurfend, leise, konnten aber durchaus von einem erwachsenen Mann stammen. Sie sah sich um. In dem Raum mit der Spinne gab es keine geeigneten Verstecke. Über den Gang jedoch befanden sich die Toiletten. Sie eilte auf die Herrentoilette zu, die keine Tür mehr besaß und dort in die einzige Toilettenbox. Sie versuchte, die Tür zu verschließen, doch diese sprang immer wieder auf. Als die Schritte näher kamen, kletterte sie auf den Klodeckel und von dort auf die Wand der Toilettenbox. Der Hexenmeister ging zuerst in den Raum mit der Spinne, kam aber bald zu den Toiletten. Sie sah sein Gesicht und erschrak. Das alterslose und dennoch von Falten geprägte Gesicht, der raue Bart, das lockige Haar. Die unergründlichen, grauen Augen. Sie kannte diesen Mann. Auf den Bildern, die man ihr gezeigt hatte, war es ihr nicht aufgefallen. Aber hier wusste sie plötzlich, dass sie den Mann in dem schwarzen Mantel, mit dem fleckigen Hemd und der alten Jeans kannte.


Er schien sie zu suchen, blickte sich genau in dem Raum um:
"Ich weiß, dass du hier bist! Komm zu mir!"


Sie fühlte, wie der Hexenmeister sie in seinen Bann zog. Sie durfte es nicht zu lassen, auch wenn sie ihn kannte. Gerade, weil sie ihn kannte. Sie konnte ihn nicht laufen lassen. Er würde sie nicht laufen lassen. Es gab nur noch einen Ausweg. Sie zog ihre Waffe und richtete sie auf den Mann. In diesem Moment sah er sie an und entblößte seine gelben Zähne in einem gelogenen, bösen Lächeln:
"Da bist du ja. Ja, ich bin es. Komm zu mir, dir wird nichts geschehen!"
Sie schloss die Augen und schoss.


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