02 Juli 2023

Der Unterstand

 Endlich hatte sie eine Höhle gefunden, die sie vor dem herannahenden Unwetter schützen konnte. Der Eingang lag hoch über dem Boden, weit genug, um die Wogen des Hochwassers aufzuhalten. Hoch genug, um ihren Feinden den Weg zu versperren. Sie kletterte auf die seltsamen, glatten Steine im Inneren. Ein Bein nach dem anderen, rechts und links im Wechsel. Im hellen Tageslicht, das ihr durch die Öffnung folgte, erkannte sie den Abgrund und die Wand dahinter. Irgendwo dort würde sie sich einen Spalt suchen und das Wetter abwarten. Vielleicht dauerte es zwei, vielleicht auch vier Tage, dann konnte sie in die offene Welt zurück, sich einen Partner und ein Nest suchen.


Der Abgrund war tiefer und die Strecke weiter, als sie vermutet hatte. Als sie die Wand erreicht hatte, war die Sonne bereits verschwunden und nur der Mond erleuchtete blass die glatten Steine im Inneren. Ab und an zuckte ein Blitz am Himmel. Ein langer, andauernder Blitz. Nicht das rasche Leuchten des Gewitters, das sie fürchtete. Ein tonloser Blitz, mehr eine kleine Sonne, die nach kurzer Zeit erlischt.
Der Aufstieg war beschwerlich. Immer wieder rutschte sie an den glatten Steinen hinab. Glatte Steine, die seltsam rochen. Beinahe wie die Blumen auf dem weiten Feld, aber doch anders. Süßlich und scharf zugleich. Ob sich Insekten zu diesen Steinen verirrten, um sie auszulecken? Wenn ja, hatte sie großes Glück. Diese seltsame Höhle war das Paradies. Schutz vor Unwetter und Feinden, aber der falsche Geruch der Blüten lockte Beute an.


Die Dunkelheit umhüllte die Höhle nun vollständig. Sie tastete sich vorwärts. Bein für Bein, rechts und links im Wechsel, bis sie eine schmale Öffnung fand. Ein eigentümlich runder Spalt, kaum größer als ihr Hinterleib. Ein perfektes Versteck vor dem Regen. Nichts würde sie hier finden. Kein Vogel, nicht einmal eine andere Spinne. Und der Spalt fühlte sich zudem weich an. Der Geruch war gewöhnungsbedürftig, sicher. Die falschen Blumen mischten sich mit einem stumpfen Gestank, den sie nicht zuordnen konnte. Aber daran störte sie sich nicht. Sie genoss die Enge, Wärme und Sicherheit des Spalts an der Wand. Von hier aus konnte sie sogar den Eingang sehen. Kein Feind würde ihr so zu nahe kommen können. Von Sicherheit umwoben schlief sie ein.


Regen prasselte auf die Steine um ihre Höhle. Laute, wilde Tropfen. Das Unwetter weckte sie, trieb sie aus ihrem sicheren Spalt. Durch den Eingang der Höhle fiel strahlender Sonnenschein. Der Geruch der falschen Blumen erfüllte den Raum. Und immer wieder das Prasseln des Regens. Wie kam das Wasser in die Höhle? War sie in Gefahr?


Erst nervös, dann panisch zog sie sich aus dem Spalt hervor, suchte nach Halt an den glatten, seltsamen Steinen, die nun glatt vor Nässe waren. Ein riesiges Tier stand neben dem Spalt in der Höhle und starrte sie an. Es war zu groß, als dass sie es gänzlich erfassen konnte, aber sie spürte den Blick. Sie bewegte sich nicht. Sie konnte sich tot stellen, ganz, wie es ihre Art war. Aber der Regen staute sich in der Höhle. Wenn sie von der Wand fiel, würde sie auf das Wasser treffen und elendiglich ertrinken. Sie musste weg. Raus aus dem Regen, weg von dem großen Tier. Sie verstand nicht einmal, wie ein so großes Tier durch die kleine Öffnung der Höhle gepasst hatte.


Der Regen hörte auf. Das Tier wendete sich ab, griff nach einem riesigen Stein am Boden. Der Geruch falscher Blumen betäubte für einen Moment ihre Sinne. Sie durfte sich nicht aufhalten lassen. Sie musste fliehen. Höher, weiter, an die Decke der Höhle. Der Aufstieg war anstrengend. Ihre Beine mit den kleinen Klauen fanden kaum Halt. Die winzigen Poren der Steine waren mit Wasser gefüllt, ließen sie immer wieder abrutschen.


Der Regen begann von Neuem.


Sie blieb stehen, suchte einen besseren Aufstieg. Unter ihr glänzte ein metallener Vorsprung, der sich allmählich mit heißer Feuchtigkeit überzog. Die Luft verwandelte sich in Nebel, der in ihren Tracheen kondensierte. Sie hielt inne. Vielleicht musste sie nicht weiter fliehen. Das Tier interessierte sich nicht mehr für sie und der Regen schien sie nicht zu erreichen.


Wieder setzten die Tropfen aus. Das Tier trat an ihr vorbei, würdigte sie keines Blickes. Es verschwand im Nebel, der die Höhle ausfüllte und kehrte nicht mehr zurück. Sie wartete, bis die Nacht erneut hereinbrach. Das Unwetter war vorbei, sie kehrte in die offene Freiheit zurück.

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