Es waren nur ihre Rückenschmerzen, die sie vor dem Wegnicken bewahrten.
Mittwochnachmittage hatten grundsätzlich etwas Ermüdendes und die
stotternde, wenig mitreißende Sprechweise des Professors
machte es nicht besser. Vor einigen Wochen war sie voller Elan in
das neue Semester gestartet und hatte beschlossen, jedes Thema mit
Interesse anzugehen. Nun saß sie hier, lehnte sich abwechselnd
auf dem Sitz zurück, um ihren Rücken zu beruhigen oder legte ihren
Kopf auf dem Tisch ab, um vielleicht doch der Schläfrigkeit nachzugeben.
Oder war sie nicht schläfrig? Ihre Augen brannten.
Heuschnupfen? Nein, zu früh im Jahr. Außerdem sicher nicht im
Hörsaal. Es gab hier keine Pflanzen und gegen den Gummibaum auf dem Flur
war sie nicht allergisch. Nicht, dass sie wusste. Sie
gähnte, richtete sich auf und zwang sich, den Ausführungen des
Professors zu folgen.
Mineralogie. Das Beste an diesem Fach war, dass graduierte
Mineralogen Mineralen Namen geben durften, sollten sie Neue entdecken.
Mineralit, nein, das war ein dummer Name. Aerodactylit, ja. Sie
kicherte. Allein, um Jahrgänge folgender Studenten zu ärgern. Aber
brauchte man für diesen Namen die Einwilligung von Nintendo? Immerhin
war der Begriff sicher geschützt. Gengarit, wenn sie schon
dabei war. Absolit, der war gut. Ab sol - Fern der Sonne. Absolit -
Fern der Sonne mit Mineralsuffix. Das war wirklich gut. Ein toller Name
für ein Mineral im Erdinneren. Aber auch hier wieder
die Sache mit dem dummen Copyright. Aber das Sonic-Hedghog-Gen und
das Protein Pikachurin? Ob die Wissenschaftler da auch erst angefragt
hatten? Andererseits, Pikachurin war vor der Benamung des
Proteins ja kein Begriff. Vielleicht sollte sie das Pikachu-DS aus
dem Rucksack holen und spielen? Oder ihr Buch fortsetzen, das war sicher
besser. Aber Lesen, während der Professor redete? Noch
dazu Englisch? Britisches Englisch zu allem Überfluss. Nein, dafür
fehlte ihr die Konzentration.
Ihr Blick heftete sich auf das Bild, welches der Beamer an die Wand
warf. Kugeln, Striche, Formeln, dichteste Packungen, hexagonal, kubisch.
Das kannte sie alles aus dem letzten Semester und dem
davor und dem davor und dem davor. Sie gähnte erneut. Der Professor
forderte die Studenten auf, die Packungsdichte einer kubisch dichtesten
Kugelpackung auszurechnen. Sie schloss die Augen,
murmelte: »Zweiundfünfzig Prozent ...«
Der Professor erzählte irgendetwas von der Kristallographievorlesung
im letzten Semester. Ihr Rücken zog scharf an ihren Schulterblättern.
Sie richtete sich wieder auf. Sie sollte zum Stall
fahren oder tanzen oder spazieren gehen, sich bewegen, nicht auf
diesen Stühlen sitzen. Mehr als eine Stunde auf diesen Dingern sollten
als Folter gelten. Die Zweitsemester um sie herum tippten
fleißig auf ihren Taschenrechnern, aber in ihren Gesichtern konnte
sie lesen, dass sie keine Ahnung hatten. Der Professor auch, er hakte
nach. Keiner hatte den Mut, sein Nichtwissen anzuerkennen.
Sie seufzte, legte den Kopf wieder auf dem Klapptisch ab und schloss
die Augen. Der Schmerz biss in ihrem Rücken. Der Raum war still. Sie
richtete sich auf, holte das DS hervor und begann ein
sinnloses Puzzlespiel. Zehn Minuten, bis der Professor wieder
Aufmerksamkeit forderte. Als kein Ergebnis genannt wurde, rechnete er
hastig vor. Wie wollten diese Studenten im Winter
Kristallographie bestehen, wenn sie schon bei den einfachen Aufgaben
versagten? Oder waren die Aufgaben deswegen so einfach, weil sie die
Kristallographie schon kann? Wahrscheinlich war sie der
einzige Student im ganzen Hörsaal, der dem Professor überhaupt
folgen konnte.
Er redete irgendetwas über Koordinationszahlen. KZ. Bei den
Chemikern gab es jemanden, der sich weigerte, das Wort abzukürzen.
Euphemismusparadoxon. Ich kann die negative Bedeutung eines Wortes
nur dann durchbrechen, wenn ich es bewusst neutral oder positiv
belege. Geil. Schwul. Naja, eher das Englische queer. Hitler als
Witzfigur. Oder eben KZ. Ihr Freund war genauso. Hatte sie ihn
damals davon überzeugen können oder nicht? Wieso sollte sie Angst
vor zwei verdammten Buchstaben haben? Wie albern, wie deutsch.
»Die Koordinationszahlen der Kugelpackungen sind identisch«,
insistierte der Professor. Sie sah auf, rechtzeitig, um zu sehen, wie er
mit dem Finger gegen die Luft stieß, um jede Silbe zu
betonen: »Und-die-Zahl-ist-zwölf.«
Nein, sechshundertsechsundsechzig, sie kicherte. Kristallographen
waren der Antichrist und Plagioklas war die Antwort auf alles und
gleichbedeutend mit Wasser. Brechungsindex zweiundvierzig.
Zweiundvierzig war die Antwort auf alles. Dämlicher
Geologen-Nerd-Insider. War sechshundertsechsundsechzig durch zwölf
teilbar? Nein, nein, das musste eine andere Zahl sein. Sie war zu
schläfrig,
um zu rechnen und ihr Taschenrechner zu tief in ihrem Rucksack
verbuddelt. Der Professor stellte irgendeine Frage, die sie nicht hörte.
Ihr Kopf war leer. Schlafen? Schlafen. Sie verschränkte die
Arme auf dem Tisch, legte den Kopf ab und schloss die Augen.
Allgemeines Gemurmel. Der Professor wiederholte die Frage. Ob man mit
irgendwelchen Mitteln irgendwie feststellen könne, welche
Kugelpackung man habe. Sie entschied sich für Ja. Zu müde zum
Nachdenken.
Der Professor schwieg eine Weile. Ihr Rücken brachte sie um. Kleine
Messer in ihren Muskeln, nein, Hebel. Irgendjemand saß auf ihrer
Wirbelsäule und zog an kleinen Hebeln. Sie setzte sich wieder
auf, ihr Blick suchte den Dozenten. Dieser stand vor dem langen
Tisch vor der Tafel und lächelte verzweifelt. Er konnte so nervös
werden, wenn man ihn nicht verstand. Sie seufzte. Der Professor
gestikulierte wild mit den Armen.
»Sie müssen sich doch fragen, wann immer ich eine Frage stelle.
Nein, nicht ›Was ist das Ergebnis?‹ sondern, ›Wie beantworte ich die
Frage?‹ Die Antwort ist doch offensichtlich!«
Zustimmendes Gemurmel aus dem Saal, indem mittlerweile auch sie
aufgegeben hatte, seinen Ausführungen folgen zu wollen. Vielleicht
nächste Woche. Vielleicht nächsten Monat. Sie sah auf die Uhr.
Halb vier. Noch eine Viertelstunde. Vielleicht auch erst in der
Woche vor den Prüfungen.
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