Petri
lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben. Er stand jeden Morgen
um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit ins Büro und ging
um die gleiche Zeit schlafen. Auch heute war es einer der ewig
gleichen Tage. Selbst das Wetter war grau und durchschnittlich, ein
nebliger Tag im November.
Petri
verließ das Büro pünktlich zu Betriebsschluss und wartete auf den
Bus, der ebenso pünktlich vorfuhr. Er gehörte zu den wenigen
Menschen, die sich noch nie über die Unpünktlichkeit der
öffentlichen Verkehrsmittel beschwert hatten, denn die beiden
Busfahrer, mit denen Petri jeden Tag zu tun hatte, teilten seinen
eigenen preußischen Ordnungssinn und waren häufig etwas früher,
aber niemals zu spät an ihrer Haltestelle.
Petri
stieg in den warmen, trockenen Innenraum des Wagens und beobachtete
während der Fahrt die Nebelwand, die langsam über Frankfurt
waberte. Der Bus nahm die Auffahrt zur Autobahn, um das kurze Stück
über den Flughafen zu fahren. Der Nebel wurde zunehmend dichter, der
Busfahrer drosselte das Tempo. Petri sah auf die Uhr. Wenn das Wetter
so blieb, würde er zu spät zum Abendessen zuhause sein und deshalb
noch die Nachrichten verpassen. Er wandte den Blick vom Fenster ab
und wollte Özmir zu mehr Mut anhalten.
Er
stockte, als sein Blick in den Gang fiel, außer ihm und dem Fahrer
war niemand in dem Bus, was ungewöhnlich war. Normalerweise
verließen mit Petri zusammen mehrere Kollegen das Büro und nahmen
auch mit ihm zusammen denselben Bus in die Wohngebiete zurück. Ihm
war noch gar nicht aufgefallen, dass heute etwas anders war. Hatte er
einen Feiertag oder eine Betriebsfeier verpasst? Er sah irritiert aus
dem Fenster. Die wabernde Masse lichtete sich ein wenig und gab den
Blick auf den Flughafen frei.
Özmir
bremste scharf. Petri musste sich an einem Handlauf abstützen. »Was
ist los?«
»Wir
kommen nicht weiter. Die Polizei hat die Strecke gesperrt. Der Nebel,
nehme ich an.«
»Bitte
was?« Petri schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich aussteigen und
nachsehen.«
»Bei
dem Nebel? Sie wissen doch gar nicht, was da los ist, Herr Petri.«
Petri
zögerte. Er war nie der Mutigste gewesen und Veränderungen hatten
ihm schon als Kind nicht behagt. Aber irgendjemand musste nachsehen,
ob und was dort geschehen war. Er atmete tief ein. »Es wird schon
nichts sein. Vielleicht kann ich von hier aus auch mit dem Zug
weiter.«
»Wie
Sie wollen.« Der Busfahrer öffnete die hintere Tür.
Petri
stieg aus, überquerte die Straße und betrat das Terminal. Er sah
sich nach einem der Flughafenpolizisten um, in der Hoffnung, er könne
ihm Auskunft geben, doch er war auch in dem großen Gebäude allein.
Ein Schauer überlief ihn, er sah sich um. Durch die Bauarbeiten
konnte er die Straße nicht einsehen. Ob der Bus noch da war? Ob er
zurückgehen sollte? Er schüttelte den Kopf. Wenn die Straße
blockiert war, war der Zug seine einzige Möglichkeit, pünktlich
nach Hause zu kommen. Leider kannte er sich am Flughafen nicht aus.
Vor
ihm erstreckte sich ein Gang, der auf einer Seite von Läden und
Türen gesäumt war, hinter ihm führte der Weg in einen leeren Gang.
Er spürte, dass dieser Weg ihn in die falsche Richtung führen
würde. Es war eine diffuse Ahnung, die er jedoch ignorierte.
Vielleicht würde dies sein erstes und einziges Abenteuer werden,
seitdem er sich als Kind im Wald verlaufen hatte. Er drehte sich
herum und folgte dem schmalen Gang.
Der
Gang war erleuchtet, doch die Wände waren offen, Kabel lagen
sichtbar in Schächten dahinter. Petri betrachtete sie im Vorbeigehen
und stieß schließlich gegen einen Widerstand. Er sah auf, an sich
hinunter und stellte fest, dass sich vor ihm eine ältere Frau mit
porzellanweiser Haut und tiefschwarzen Augen befand.
Sie
blinzelte zu ihm nach oben, deutete mit der knochigen Hand auf den
Gang und schnarrte: »Was tun Sie hier? Kommen Sie aus dem Nebel?«
Ihre
Stimme irritierte Petri. Sie war knarzig, aber weit entfernt, als ob
sie aus einem anderen Raum zu ihm sprach. Er sah sich um und folgte
mit dem Blick der Geste der Alten. Er schüttelte den Kopf. »Ich,
nein, doch. Ich komme aus dem Nebel, ja. Ich will nach Hause.«
»Das
ist nicht Ihr Zuhause! Verschwinden Sie, bevor ich meinen Sohn rufe!«
Petri
wich zurück, er spürte, dass es besser war, zu verschwinden. Er
drehte sich herum und rannte in Richtung Ausgang. Er öffnete mit der
Schulter die erste Glastür, ihm war, als verfolge ihn ein grelles
Lachen.
»Özmir!
Özmir!« Er passierte auch die zweite Tür der Schleuse, hinaus in
den Nebel, stieß mit etwas zusammen, taumelte zurück und fiel. Sein
Kopf schlug am Boden auf.
Als
er wieder zu sich kam, fand sich Petri in seinem Büro wieder, den
Kopf seitlich auf dem Schreibtisch mit nassgesabbertem Hemdsärmel.
Er blinzelte aus dem Fenster. Ein normaler Donnerstag im November,
eine weiße Nebelwand trennte die Realität des Büros von den
Gefahren der Außenwelt. Er schüttelte den Kopf, noch unsicher, ob
er wirklich im Büro war. Vorsichtig sah er sich um. Ja, er saß an
seinem Schreibtisch und war mit der Arbeit für heute fertig. Sein
Blick fiel auf die Uhr, er konnte nicht allzulange geschlafen haben.
Wenn er ohnehin mit seinem Tagewerk fertig war, konnte er heute auch
genauso gut einen Bus früher nach Hause fahren. Ehe der Nebel noch
dichter wurde.
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