05 September 2016

Die Nebelwand

Petri lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben. Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit ins Büro und ging um die gleiche Zeit schlafen. Auch heute war es einer der ewig gleichen Tage. Selbst das Wetter war grau und durchschnittlich, ein nebliger Tag im November.
Petri verließ das Büro pünktlich zu Betriebsschluss und wartete auf den Bus, der ebenso pünktlich vorfuhr. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die sich noch nie über die Unpünktlichkeit der öffentlichen Verkehrsmittel beschwert hatten, denn die beiden Busfahrer, mit denen Petri jeden Tag zu tun hatte, teilten seinen eigenen preußischen Ordnungssinn und waren häufig etwas früher, aber niemals zu spät an ihrer Haltestelle.
Petri stieg in den warmen, trockenen Innenraum des Wagens und beobachtete während der Fahrt die Nebelwand, die langsam über Frankfurt waberte. Der Bus nahm die Auffahrt zur Autobahn, um das kurze Stück über den Flughafen zu fahren. Der Nebel wurde zunehmend dichter, der Busfahrer drosselte das Tempo. Petri sah auf die Uhr. Wenn das Wetter so blieb, würde er zu spät zum Abendessen zuhause sein und deshalb noch die Nachrichten verpassen. Er wandte den Blick vom Fenster ab und wollte Özmir zu mehr Mut anhalten.
Er stockte, als sein Blick in den Gang fiel, außer ihm und dem Fahrer war niemand in dem Bus, was ungewöhnlich war. Normalerweise verließen mit Petri zusammen mehrere Kollegen das Büro und nahmen auch mit ihm zusammen denselben Bus in die Wohngebiete zurück. Ihm war noch gar nicht aufgefallen, dass heute etwas anders war. Hatte er einen Feiertag oder eine Betriebsfeier verpasst? Er sah irritiert aus dem Fenster. Die wabernde Masse lichtete sich ein wenig und gab den Blick auf den Flughafen frei.
Özmir bremste scharf. Petri musste sich an einem Handlauf abstützen. »Was ist los?«
»Wir kommen nicht weiter. Die Polizei hat die Strecke gesperrt. Der Nebel, nehme ich an.«
»Bitte was?« Petri schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mich aussteigen und nachsehen.«
»Bei dem Nebel? Sie wissen doch gar nicht, was da los ist, Herr Petri.«
Petri zögerte. Er war nie der Mutigste gewesen und Veränderungen hatten ihm schon als Kind nicht behagt. Aber irgendjemand musste nachsehen, ob und was dort geschehen war. Er atmete tief ein. »Es wird schon nichts sein. Vielleicht kann ich von hier aus auch mit dem Zug weiter.«
»Wie Sie wollen.« Der Busfahrer öffnete die hintere Tür.
Petri stieg aus, überquerte die Straße und betrat das Terminal. Er sah sich nach einem der Flughafenpolizisten um, in der Hoffnung, er könne ihm Auskunft geben, doch er war auch in dem großen Gebäude allein. Ein Schauer überlief ihn, er sah sich um. Durch die Bauarbeiten konnte er die Straße nicht einsehen. Ob der Bus noch da war? Ob er zurückgehen sollte? Er schüttelte den Kopf. Wenn die Straße blockiert war, war der Zug seine einzige Möglichkeit, pünktlich nach Hause zu kommen. Leider kannte er sich am Flughafen nicht aus.
Vor ihm erstreckte sich ein Gang, der auf einer Seite von Läden und Türen gesäumt war, hinter ihm führte der Weg in einen leeren Gang. Er spürte, dass dieser Weg ihn in die falsche Richtung führen würde. Es war eine diffuse Ahnung, die er jedoch ignorierte. Vielleicht würde dies sein erstes und einziges Abenteuer werden, seitdem er sich als Kind im Wald verlaufen hatte. Er drehte sich herum und folgte dem schmalen Gang.
Der Gang war erleuchtet, doch die Wände waren offen, Kabel lagen sichtbar in Schächten dahinter. Petri betrachtete sie im Vorbeigehen und stieß schließlich gegen einen Widerstand. Er sah auf, an sich hinunter und stellte fest, dass sich vor ihm eine ältere Frau mit porzellanweiser Haut und tiefschwarzen Augen befand.
Sie blinzelte zu ihm nach oben, deutete mit der knochigen Hand auf den Gang und schnarrte: »Was tun Sie hier? Kommen Sie aus dem Nebel?«
Ihre Stimme irritierte Petri. Sie war knarzig, aber weit entfernt, als ob sie aus einem anderen Raum zu ihm sprach. Er sah sich um und folgte mit dem Blick der Geste der Alten. Er schüttelte den Kopf. »Ich, nein, doch. Ich komme aus dem Nebel, ja. Ich will nach Hause.«
»Das ist nicht Ihr Zuhause! Verschwinden Sie, bevor ich meinen Sohn rufe!«
Petri wich zurück, er spürte, dass es besser war, zu verschwinden. Er drehte sich herum und rannte in Richtung Ausgang. Er öffnete mit der Schulter die erste Glastür, ihm war, als verfolge ihn ein grelles Lachen.
»Özmir! Özmir!« Er passierte auch die zweite Tür der Schleuse, hinaus in den Nebel, stieß mit etwas zusammen, taumelte zurück und fiel. Sein Kopf schlug am Boden auf.
Als er wieder zu sich kam, fand sich Petri in seinem Büro wieder, den Kopf seitlich auf dem Schreibtisch mit nassgesabbertem Hemdsärmel. Er blinzelte aus dem Fenster. Ein normaler Donnerstag im November, eine weiße Nebelwand trennte die Realität des Büros von den Gefahren der Außenwelt. Er schüttelte den Kopf, noch unsicher, ob er wirklich im Büro war. Vorsichtig sah er sich um. Ja, er saß an seinem Schreibtisch und war mit der Arbeit für heute fertig. Sein Blick fiel auf die Uhr, er konnte nicht allzulange geschlafen haben. Wenn er ohnehin mit seinem Tagewerk fertig war, konnte er heute auch genauso gut einen Bus früher nach Hause fahren. Ehe der Nebel noch dichter wurde.

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