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Bild von Marc Pascual auf Pixabay |
Ich wohne in einer Seitenstraße, in der den größten Teil des Jahres über Schritttempo herrscht. Nicht, dass dies die Idioten auf der Suche nach einer Abkürzung davon abhalten würde, mit achtzig Sachen hier lang zu brettern und die alten Leute aus dem Altersheim, Schulkinder auf dem Nachhauseweg oder Mütter, die ihre Babys zum Arzt bringen, umzufahren. Aber darum geht es nicht einmal. Denn einmal im Jahr wird aus meiner Straße die Hauptstraße des kleinen Ortes, nämlich dann, wenn Kirmes ist. Kirchweih, Jahrmarkt, wie auch immer ihr es nennen wollt.
Dann ist hier die Hölle los, verkehrstechnisch, und die einzige Zeit im Jahr, wo alle gezwungenermaßen langsam fahren. Und zu dieser Zeit spielt die Geschichte. An einem sonnigen September-Sonntag.
Ich war allein zuhause und beschloss, mir auf dem Festplatz in der Ortsmitte etwas zu Essen zu holen. Currywurst oder Pilzpfanne, einen Schokoladenapfel. Dafür musste ich nicht nur meine Straße hinunter, vorbei an Falschparken und den Schaulustigen, die wie jedes Jahr über die Abschleppwagen diskutierten, sondern auch durch eine Querstraße voller Buden, Platanen und steinernen Blumenkübeln.
Es war noch früh am Mittag und auf dem Weg war wenig los. Ein großer Kirmesbaum stand windschief auf seinem Platz an der Hauptstraße, Kinder schrien von den Fahrgeschäften. Eine Berg-und-Tal-Bahn, ein Autoscooter und was auch immer der Action-Ride für dieses Jahr war. Eine Gruppe Männer und Frauen im mittleren Alter stand an einer Fressbude, das zweite Glas wässriges Bier in der Hand, und tratschte.
Zu meiner Überraschung kam mir vom Kirmesplatz her mein Großvater entgegen, doch er bemerkte mich nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem tabletgroßen Smartphone in seiner Hand.
Ich grinste in mich hinein. Mein Opa war noch nie sonderlich gut mit Technik gewesen und hatte sich den größten Teil seines Lebens von jedem Gerät ferngehalten, das komplizierter als ein Fernseher war. Wo er das Ding wohl her hatte?
Gerade, als ich zu ihm gehen und ihn danach fragen wollte, schoss ein Motorrad zwischen mir und der Fressbude vorbei. Servietten und alte, trockene Pommes stoben auf, wirbelten durch die Luft und regneten auf die roten Pflastersteine. Die Leute mit ihrem Bier drehten sich um und schimpften über den unverantwortlichen Fahrer, genau wie ich. Nur mein Opa war noch immer abgelenkt.
Dem ersten Motorrad folgten mit etwas Abstand zwei weitere. Das erste raste auf derselben Bahn dahin, doch das zweite musste einem Kind ausweichen. Der Fahrer verlor die Kontrolle, kam ins Straucheln und prallte mit voller Geschwindigkeit gegen einen der steinernen Blumenkübel.
Schockiert beobachten wir, wie sich das Motorrad überschlug, den Fahrer abwarf und durch die Luft schleuderte. Unendlich langsam drehte der Fahrer einen schiefen Salto, dann noch einen halben und landete schließlich mit einem scheußlichen Knacken flach auf dem Rücken. Die Arme und Beine waren unnatürlich verdreht. Nichts regte sich mehr.
Für eine Weile war alles still. Nicht einmal das Johlen der Kinder auf den Fahrgeschäften drang mehr auf die Straße.
Ich zitterte und musste mich zwingen, den Blick von dem Fahrer abzuwenden. Ich rief meinem Opa zu, dass er einen Notarzt rufen sollte, während einer der Gäste der Fressbude erste Hilfe leistete und andere nach ihren Handys kramten.
Mein Opa sah auf. Er deutete auf sein Smartphone, seine Lippen formten stumme Worte, die ich nicht deuten konnte. Dann zeigte er auf den Motorradfahrer.
Ich drehte mich langsam, mechanisch um und starrte in das zuckende Gesicht einer jungen Frau. Das Gesicht einer Sterbenden. Für den Arzt war es viel zu spät.
Galle stieg mir in die Kehle und meine Knie drohten, nachzugeben. Ich fühlte den Schatten eines unerträglichen Schmerzes über meine Wirbelsäule rasen. Wenn ich nicht sofort los ging, würden meine Beine taub und nutzlos werden und ich wäre ebenso hilflos,wie die sterbende Raserin.
Ich schloss die Augen, atmete tief ein und stakste zurück nach Hause, nur weg von diesem Anblick, der Angst und Hilflosigkeit. Mein Opa wusste,wo ich war, würden Zeugen gebraucht.
Meine Straße war erstaunlich leer. Keine Autos, nicht einmal Falschparker. Nur eine Gruppe Halbstarker, die sich um einen bulligen Typen auf einem billigen Campingstuhl drängten, der mit einem Klappmesser spielte. Waren heute eigentlich nur Volldeppen unterwegs? Pseudocoole Möchtegerngangster waren so ziemlich das letzte, was ich jetzt brauchte.
Ich grüße die Bande im Vorbeigehen, um ihnen klar zu machen, dass ich sie gesehen hatte, in der Hoffnung, sie so von irgendwelchen Dummheiten abzuhalten. Trotzdem griff ich gleichzeitig in meine Tasche und umklammerte den Schlüsselbund wie einen Schlagring.
Es war so ungewohnt und beunruhigend, an einem Tag wie heute beinahe allein auf der Straße zu sein. Vor allem nach diesem Unfall.
Ich schauderte bei dem Gedanken.
Vor mir lag der Hof meines Hauses. Ich öffnete hastig das Tor und eilte zur Haustür. Der Schlüssel klemmte im Schlüsselloch. Verdammtes verzogenes Schloss.
Ich probierte ihn ein zweites Mal, sah dabei über die Schulter. Folgte mir jemand oder war die Nervosität Teil des Schocks?
Der Schlüssel drehte sich, die Tür sprang auf.
Ich drückte mich ins Haus.
Ich versuchte, den Schlüssel von innen einzustecken, um es möglichen Verfolgern schwerer zu machen, einzubrechen, aber von dieser Seite passte der Schlüssel nicht. Nicht einmal zur Hälfte.
Ich stutzte. Wieso passte der Schlüssel nicht mehr? War ich im falschen Haus? Aber wie konnte ich dann aufschließen?
Ich sah mich um. Der Flur wirkte vertraut. Eine Treppe nach oben, eine in den Keller, die Tür in die Küche neben mir, die ins Wohnzimmer vor mir. Mein Haus. Aber irgendwas war anders.
Ich ließ den Schlüssel auf der Treppe liegen und ging nach oben.
Hier stand der Flur voll mit Umzugskartons, dazwischen ein Laufband. Ich runzelte die Stirn. Niemand in der Familie besaß ein Laufband. Und niemand wollte umziehen. Ich musste im falschen Haus sein. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn ich die Bewohner suchte und ihnen die Situation erklärte.
Denn raus wollte ich jetzt um keinen Preis. Nicht wieder an den Unfall denken.
Ich ging zurück nach unten, ins Wohnzimmer. Auf einem Regalbrett stand das Hochzeitsfoto meiner Großeltern. Mein Opa war ein hübscher junger Mann gewesen, wirklich hübsch. Ich hätte ihn anstelle meiner Oma auch geheiratet. Und er war ein netter Mann. Zu schade, dass er so früh gestorben war und seine Urenkel nicht kennengelernt hatte.
Daneben ein Hochzeitsfoto meiner Eltern und ein Schwarzweiß-Bild von mir.
Ich stockte. Warum hatte, wer immer hier wohnte, diese Bilder? Wer wohnte hier?
Ich riss mich von den Bildern los. Sicher gab es eine gute Erklärung dafür. Hinter der offenen Gartentür.
“Hallo? Entschuldigung!”, rief ich, als ich auf die hölzerne Veranda trat.
Hier war niemand. Das ganze Haus war völlig leer, wie ich es verlassen hatte. Niemand war da, nicht einmal das Motorrad in der Garage.