17 Oktober 2016

Johnny

Die Straßenzeile zog sich endlos hin. Rechts Hochhäuser, links Hochhäuser und dazwischen ein Fluss aus Asphalt, über dem die Luft trotz der herbstlichen Temperaturen waberte. Eine junge Frau und ihre Mutter spazierten auf dem Bürgersteig durch die Stadt und unterhielten sich über Belanglosigkeiten. Keine der beiden schenkte der Umgebung Aufmerksamkeit und so bemerkten sie nicht, dass sich vor ihnen eine Lücke in den Wänden aus Stahlbeton auftat.

Zwischen den Giganten aus Glas und grauer Fassade brach das Sonnenlicht gleißend auf die Straße. Es überflutete einen mit Kies bestreuten Platz, kroch über Blumenbeete und durch die Lücken eines Zaunes und badete ein holsteinisches Bauernhaus in warmem Weiß.

Die beiden Frauen blieben stehen, als sie die Auffahrt zu dem Gehöft erreicht hatten, und blickten sich um. Roter Backstein, ein reetgedecktes Dach, eine bunt bemalte Eingangstür. An das eineinhabstöckige Haus fügte sich ein längliches Gebäude an, welches von einem weißen Lattenzaun umschlossen wurde. Hinter den Gebäuden erstreckten sich Wiesen bis weit in Richtung Horizont. Kühe brüllten in der Ferne, ein einsames Pferd antwortete ihnen aus dem Stall. Andere Pferden fielen von der Weide aus in das Wiehern mit ein.

Die junge Frau wandte sich an ihre Mutter. »Ob sie noch hier wohnen?«

Diese zuckte mit den Schultern und trat durch das offene Hoftor auf den Hof: »Ich weiß es nicht. Vielleicht, vielleicht sind sie aber auch längst weg. Geh nachsehen, wenn es dich interessiert.«

Die junge Frau nickte, ging an ihrer Mutter vorbei und betrat mit sicheren Schritten den Stall. Die Kinder, die über den Hof tobten, ignorierte sie genauso wie Menschen im Stall. Früher war sie häufig hier gewesen, in all ihren Schulferien und an vielen Wochenenden. Hier hatte sie Ruhe und ein zweites Zuhause gefunden. Und ihre Jugendliebe. Sie durchquerte die Stallgasse und verließ das Gebäude durch einen Ausgang, der zu den Weiden führte.

Weiße Zäune umschlossen sattgrüne Wiesen. Die Kühe standen mit den Pferden gemeinsam auf dem Gras. Schwarz-weiße Kühe, Pferde in allen Farben und Mustern, einzelne Stallarbeiter, die die Wiesen reinigten.

Sie ging auf das Tor zu einer der Weiden und er kam ihr sofort entgegen.

Er hatte sich in all den Jahren, in denen sie erwachsen wurde, nicht verändert. Er trug sein weißeres Sommerkleid, doch sein Kopf und seine Schenkel, seine Mähne und sein Schweif waren von tiefem kupferrot. Eine schnurgerade Blesse erstreckte sich von seinen Ohren zu seinen Nüstern, die Beine waren hochweiß gestiefelt. Und er erkannte sie. Er wieherte ihr entgegen wie damals und schmiegte die weiche Nase an ihre Schulter.

Strahlend liebkoste den Kopf des Tieres. Er war größer als früher, das Pony hatte sich in ein stattliches Pferd verwandelt. Immerhin würde sie so auf ihm reiten können, ohne, dass er dabei gequält aussah.

Eines der Kinder kam aus dem Stall auf sie zu. Es blieb neben ihr stehen und lächelte. »Es wurde immer viel erzählt, von dem Mädchen, das die Größe des Ponys nicht abgeschreckt hatte. Bist du das Mädchen?«

Die junge Frau nickte schweigend. Sie war zu beschäftigt, dem Pferd all die Zärtlichkeiten zurückzugeben, auf die sie beide so lange verzichten mussten. Als sie schließlich aufsah, stand die Betreiberin des Hofes vor ihr.

Sie lächelte und reichte der jungen Frau die Trense des Tieres: »Wir wussten, du würdest zurückfinden. Er gehört dir, du weißt es. Kaum jemand hat sich mit ihm beschäftigen wollen in all den Jahren. Nimm ihn, führe ihn hinaus, reitet wieder in den Wald.«

Mit Tränen in den Augen nahm die junge Frau die Trense entgegen und zog sie dem rotschimmeligen Pony über den Kopf. Anschließend eilte sie in den Stall, holte den Sattel und sattelte ihren alten Freund, um ihn dann mit sich hinaus zu nehmen.

Ihre Mutter wartete am Eingang des Hofes auf dem Bürgersteig. »Was hast du jetzt vor?«, wollte sie von ihrer Tochter wissen.

»Wir werden in den Wald gehen. Ausreiten, wie Früher.«

Die Mutter nickte und begleitete ihre Tochter weiter auf dem Weg durch die Straßen. Das kleine Paradies verblasste bald im Schatten der Stahlbetonriesen. Sie wanderten Meter um Meter, bis die Häuser schließlich kleiner wurden. Vorgärten unterbrachen die Armee der Gebäude und das Licht breitete sich wie ein Teppich über die Straße aus. Kneipen, Biergärten, Privathäuser standen in immer größerem Abstand zueinander am Bürgersteig.

Die beiden Frauen näherten sich dem Ausgang der großen Stadt und unterhielten sich wieder über Belanglosigkeiten. Doch nun begleitete sie ein altes Pony, welches bei weitem nicht mehr so hässlich erschien, wie die junge Frau es in Erinnerung hatte. Die Sonne stand treu am höchsten Punkt des Himmels und erleuchtete die Welt, als wolle sie der jungen Frau alle Zeit geben, die sie und ihr Pferd benötigten, um zum Wald zurückzukehren, der endlich am Horizont aufragte. Nur noch ein Gebäude lag vor ihnen.

Neben der Straße verliefen Schienen, sie kamen aus dem nirgendwo und führten, parallel zum Bürgersteig, in das Gebäude, eine moderne Bahnhalle, die sie noch durchqueren mussten, um zur Natur hinter der Stadt zu gelangen. Eine Art modernes Stadttor, die letzte Hürde auf dem Weg zurück.

Die junge Frau, ihre Mutter und der Ponywallach betraten das Gebäude.

Die Schienen endeten in der Mitte des gigantischen Raumes. Auf ihnen stand ein alter Triebwagen und wurde von einigen Mechanikern gewartet. Auf der anderen Seite der Halle erhob sich eine Treppe. Etliche Stufen führten im Zickzack über drei große Plattformen zum Ausgang hinauf, denn das Gebäude war in einen Hügel gebaut. Neben der Treppe befand sich ein Aufzug, der jedoch nicht lang genug war, um das Pferd mit hineinzunehmen.

Die junge Frau und ihre Mutter betrachteten den Aufzug eine Weile, sahen dann einander an und seufzten. Es hatte keinen Sinn, ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Treppe zu erklimmen. Das Tier trottete brav neben der jungen Frau her, die erste Treppe hinauf.

Auf der Plattform befand sich ein Büro, umschlossen von gläsernen Wänden. Ein Mitarbeiter der Bahn hastete aus dem Raum auf die beiden Frauen zu. Er blieb mit ausgebreiteten Armen vor ihnen stehen. »Sie können unmöglich mit dem Pferd die Stufen hinauf!«

»Wieso nicht?« Die junge Frau runzelte die Stirn und sah über die Schulter auf die Stufen, die sie bereits zurückgelassen hatten. »Er hat doch auch die erste Treppe geschafft. Die Anderen werden ihm auch nichts ausmachen.«

»Wo wollen Sie überhaupt mit dem Tier hin?«

»In den Wald«, antwortete die Mutter: »Meine Tochter bekam ihr Pferd geschenkt, damit sie im Wald ausreiten kann.«

Der Mitarbeiter zögerte eine Weile, musterte das Pferd und gab schließlich den Weg frei: »Gut. Er scheint ja nicht zu schwer für die Treppe zu sein. Gehen Sie, bevor Sie noch jemand anderes sieht. Pferde sollten keine Treppen steigen.«

Die Frauen nickten und stiegen weiter Schritt für Schritt die Stahlstufen empor, das Pferd begleitete sie. Auf der letzten Ebene öffneten sie die doppelflügelige Glastür und traten auf die steinerne Brücke, die das Gebäude mit der Hügelspitze verband. Der Wald lag nur noch wenige Minuten von ihnen entfernt.

Die junge Frau lächelte, stieg in den Sattel und reichte ihrer Mutter zum Abschied die Hand.

Anschließend ritt sie in schnellem Trab hinaus in den Wald.

06 Oktober 2016

Die Vorlesung

Es waren nur ihre Rückenschmerzen, die sie vor dem Wegnicken bewahrten. Mittwochnachmittage hatten grundsätzlich etwas Ermüdendes und die stotternde, wenig mitreißende Sprechweise des Professors machte es nicht besser. Vor einigen Wochen war sie voller Elan in das neue Semester gestartet und hatte beschlossen, jedes Thema mit Interesse anzugehen. Nun saß sie hier, lehnte sich abwechselnd auf dem Sitz zurück, um ihren Rücken zu beruhigen oder legte ihren Kopf auf dem Tisch ab, um vielleicht doch der Schläfrigkeit nachzugeben. Oder war sie nicht schläfrig? Ihre Augen brannten. Heuschnupfen? Nein, zu früh im Jahr. Außerdem sicher nicht im Hörsaal. Es gab hier keine Pflanzen und gegen den Gummibaum auf dem Flur war sie nicht allergisch. Nicht, dass sie wusste. Sie gähnte, richtete sich auf und zwang sich, den Ausführungen des Professors zu folgen.
Mineralogie. Das Beste an diesem Fach war, dass graduierte Mineralogen Mineralen Namen geben durften, sollten sie Neue entdecken. Mineralit, nein, das war ein dummer Name. Aerodactylit, ja. Sie kicherte. Allein, um Jahrgänge folgender Studenten zu ärgern. Aber brauchte man für diesen Namen die Einwilligung von Nintendo? Immerhin war der Begriff sicher geschützt. Gengarit, wenn sie schon dabei war. Absolit, der war gut. Ab sol - Fern der Sonne. Absolit - Fern der Sonne mit Mineralsuffix. Das war wirklich gut. Ein toller Name für ein Mineral im Erdinneren. Aber auch hier wieder die Sache mit dem dummen Copyright. Aber das Sonic-Hedghog-Gen und das Protein Pikachurin? Ob die Wissenschaftler da auch erst angefragt hatten? Andererseits, Pikachurin war vor der Benamung des Proteins ja kein Begriff. Vielleicht sollte sie das Pikachu-DS aus dem Rucksack holen und spielen? Oder ihr Buch fortsetzen, das war sicher besser. Aber Lesen, während der Professor redete? Noch dazu Englisch? Britisches Englisch zu allem Überfluss. Nein, dafür fehlte ihr die Konzentration.
Ihr Blick heftete sich auf das Bild, welches der Beamer an die Wand warf. Kugeln, Striche, Formeln, dichteste Packungen, hexagonal, kubisch. Das kannte sie alles aus dem letzten Semester und dem davor und dem davor und dem davor. Sie gähnte erneut. Der Professor forderte die Studenten auf, die Packungsdichte einer kubisch dichtesten Kugelpackung auszurechnen. Sie schloss die Augen, murmelte: »Zweiundfünfzig Prozent ...«
Der Professor erzählte irgendetwas von der Kristallographievorlesung im letzten Semester. Ihr Rücken zog scharf an ihren Schulterblättern. Sie richtete sich wieder auf. Sie sollte zum Stall fahren oder tanzen oder spazieren gehen, sich bewegen, nicht auf diesen Stühlen sitzen. Mehr als eine Stunde auf diesen Dingern sollten als Folter gelten. Die Zweitsemester um sie herum tippten fleißig auf ihren Taschenrechnern, aber in ihren Gesichtern konnte sie lesen, dass sie keine Ahnung hatten. Der Professor auch, er hakte nach. Keiner hatte den Mut, sein Nichtwissen anzuerkennen. Sie seufzte, legte den Kopf wieder auf dem Klapptisch ab und schloss die Augen. Der Schmerz biss in ihrem Rücken. Der Raum war still. Sie richtete sich auf, holte das DS hervor und begann ein sinnloses Puzzlespiel. Zehn Minuten, bis der Professor wieder Aufmerksamkeit forderte. Als kein Ergebnis genannt wurde, rechnete er hastig vor. Wie wollten diese Studenten im Winter Kristallographie bestehen, wenn sie schon bei den einfachen Aufgaben versagten? Oder waren die Aufgaben deswegen so einfach, weil sie die Kristallographie schon kann? Wahrscheinlich war sie der einzige Student im ganzen Hörsaal, der dem Professor überhaupt folgen konnte.
Er redete irgendetwas über Koordinationszahlen. KZ. Bei den Chemikern gab es jemanden, der sich weigerte, das Wort abzukürzen. Euphemismusparadoxon. Ich kann die negative Bedeutung eines Wortes nur dann durchbrechen, wenn ich es bewusst neutral oder positiv belege. Geil. Schwul. Naja, eher das Englische queer. Hitler als Witzfigur. Oder eben KZ. Ihr Freund war genauso. Hatte sie ihn damals davon überzeugen können oder nicht? Wieso sollte sie Angst vor zwei verdammten Buchstaben haben? Wie albern, wie deutsch.
»Die Koordinationszahlen der Kugelpackungen sind identisch«, insistierte der Professor. Sie sah auf, rechtzeitig, um zu sehen, wie er mit dem Finger gegen die Luft stieß, um jede Silbe zu betonen: »Und-die-Zahl-ist-zwölf.«
Nein, sechshundertsechsundsechzig, sie kicherte. Kristallographen waren der Antichrist und Plagioklas war die Antwort auf alles und gleichbedeutend mit Wasser. Brechungsindex zweiundvierzig. Zweiundvierzig war die Antwort auf alles. Dämlicher Geologen-Nerd-Insider. War sechshundertsechsundsechzig durch zwölf teilbar? Nein, nein, das musste eine andere Zahl sein. Sie war zu schläfrig, um zu rechnen und ihr Taschenrechner zu tief in ihrem Rucksack verbuddelt. Der Professor stellte irgendeine Frage, die sie nicht hörte. Ihr Kopf war leer. Schlafen? Schlafen. Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch, legte den Kopf ab und schloss die Augen. Allgemeines Gemurmel. Der Professor wiederholte die Frage. Ob man mit irgendwelchen Mitteln irgendwie feststellen könne, welche Kugelpackung man habe. Sie entschied sich für Ja. Zu müde zum Nachdenken.
Der Professor schwieg eine Weile. Ihr Rücken brachte sie um. Kleine Messer in ihren Muskeln, nein, Hebel. Irgendjemand saß auf ihrer Wirbelsäule und zog an kleinen Hebeln. Sie setzte sich wieder auf, ihr Blick suchte den Dozenten. Dieser stand vor dem langen Tisch vor der Tafel und lächelte verzweifelt. Er konnte so nervös werden, wenn man ihn nicht verstand. Sie seufzte. Der Professor gestikulierte wild mit den Armen.
»Sie müssen sich doch fragen, wann immer ich eine Frage stelle. Nein, nicht ›Was ist das Ergebnis?‹ sondern, ›Wie beantworte ich die Frage?‹ Die Antwort ist doch offensichtlich!«
Zustimmendes Gemurmel aus dem Saal, indem mittlerweile auch sie aufgegeben hatte, seinen Ausführungen folgen zu wollen. Vielleicht nächste Woche. Vielleicht nächsten Monat. Sie sah auf die Uhr. Halb vier. Noch eine Viertelstunde. Vielleicht auch erst in der Woche vor den Prüfungen.